Aus gegebenem Anlass verweisen wir nochmals auf einen Kommentar, den wir bereits im November 2019 zu einem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster zur Frage der Wiederholung von Universitätsprüfungen nach einer ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter verfasst hatten.
Anders als auf Seiten der deutschen ADHS-Kritik dargestellt, hat sich dabei die ADHS-Diagnose nicht als Nachteil für den Betroffenen herausgestellt. Sie kann lediglich nicht retrospektiv zur Aufhebung von Prüfungsergebnissen führen, da das Gericht, gestützt auf die Ausführungen eines Gutachters, die ADHS als konstitutives Dauerleiden begreift, welches zum Wesen der Betroffenen gehört und ihr Leben unabhängig vom Diagnosezeitpunkt - quasi schon immer - bestimmt und daher nicht als vorübergehende, situative Beeinträchtigung gewertet werden kann.
Eine solche dauerhafte Beeinträchtigung kann und darf freilich nicht per se zur Benachteiligung der Betroffenen führen, denn sie entspricht anderen "Schädigungsfolgen", wie das deutsche Sozialrecht die überdauernden Folgen von Krankheiten im Sinne der ICD bezeichnet. Daher macht es natürlich auch im Erwachsenenalter Sinn, erlebt man sich im Alltag durch eine spezifische Symptomatik eingeschränkt, sich durch diesbezüglich qualifizierte Fachleute untersuchen, diagnostizieren und gegebenenfalls auch behandeln zu lassen.
Eine ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter berechtigt inzwischen in einigen Lebensbereichen, u.a. auch an zahlreichen Universitäten, zum Nachteilsausgleich, indem Prüfungen beispielsweise in einer reizarmen Umgebung und nicht gemeinsam mit hunderten von anderen Studenten geschrieben werden dürfen. Man muss diesen Nachteilsausgleich jedoch vor der Prüfung reklamieren. Hat man eine Prüfung bereits geschrieben - wie im Fall des Studenten, der mit seinem Begehren letztinstanzlich vor dem OVG Münster scheiterte -, kann man das Ergebnis nachträglich nicht mehr annullieren lassen.
Wollen Sie besser verstehen, warum das OVG Münster so entschied und auf Grundlage der gegebenen Gesetze nicht anders entscheiden konnte, lesen Sie bitte den verlinkten früheren Kommentar auf dieser Seite. Empfinden Sie hingegen Mitleid mit dem Studenten, so können Sie sich dennoch darüber freuen, dass das OVG Münster mit seiner Entscheidung zugleich das konstitutive Moment der ADHS als einer genetisch disponierten Krankheit (ja, so nennt das deutsche Sozialrecht die einer medizinischen Diagnose zugrundeliegende spezifische Verfassung eines Menschen) anerkennt.
Für die deutsche Rechtsprechung ist die ADHS weder eine Pseudo- noch eine Modekrankheit, sondern ein wissenschaftliches Faktum - und diese Feststellung ist bedeutsam für alle ADHS-Betroffenen, die Unterstützung seitens der Solidargemeinschaft brauchen!
Zum Artikel: https://www.faz.net/aktuell/ka…wiederholen-16505562.html
Alles anzeigenWir hatten in der Vergangenheit bereits über den Fall berichtet: Ein Jurastudent hatte nach Erhalt der ADHS-Diagnose geklagt, von vorangegangenen Prüfungen, die er nicht bestanden hatte, zurücktreten zu können und nun, da die ADHS behandelt wird, erneut zu den Prüfungen antreten zu dürfen. Verwaltungsgericht und nun das zuständige Oberverwaltungsgericht haben dieses Ansinnen abschlägig beschieden.
Interessant ist die Begründung des Oberverwaltungsgerichts. Dieses hatte argumentiert, dass die ADHS als Dauerleiden einzustufen sei, wie ein medizinischer Gutachter, den das Gericht beauftragt hatte, dies feststellte. Die Folgen des Dauerleidens bestimmten deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings. Ein Rücktritt von den Prüfungen kommt nach Ansicht des Gerichts jedoch nur infrage, wenn die Leistungseinschränkung zum Prüfungszeitpunkt vorübergehend war und damit eine zeitweise Beeinträchtigung eines ansonsten besseren Leistungsniveaus.
Die Begründung des Urteils trifft in mehrfacher Hinsicht auf den Nerv der ADHS-Diagnose. Zunächst ist dem medizinischen Gutachter dahingehend zuzustimmen, dass es sich bei der ADHS um eine im wesentlichen genetisch vermittelte, neurophysiologische Disposition handelt, welche durch die üblichen therapeutischen Interventionen nicht verändert werden kann. Ob dies allerdings, wie seitens des Gerichts erfolgt, zur Annahme berechtigt, das Leistungsniveau einer Person mit ADHS sei grundsätzlich mit der Leistungsfähigkeit ohne Behandlung gleichzusetzen, darf bezweifelt werden. Immerhin würde man einem Schüler, der kurzsichtig ist, dies jedoch - aus welchen Gründen auch immer - bislang nicht wusste und daher keine Brille trug, nicht unterstellen, seine Lernfähigkeit sei nur so groß wie seine Möglichkeit, ohne Brille einen Tafelanschrieb in 5 Metern Entfernung lesen zu können. Immerhin wird die Sehschärfe von Menschen in konkreten Situationen wie beispielsweise beim Autofahren auch nicht daran festgemacht, wie gut sie oder er ohne Brille sehen kann.
Dennoch ist die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts zumindest für Juristen nachvollziehbar. Das Gericht hatte nicht die Frage zu beurteilen, ob im Fall des Klägers konkret eine wesentliche Leistungsverbesserung im Hinblick auf das begonnene Studium durch die nach der ADHS-Diagnose eingeleitete Therapie zu erwarten ist, sondern ob die Einschränkung zu den Prüfungszeitpunkten nicht zuletzt für den Studenten selbst als ungewöhnliche Minderung einer ansonsten höheren Leistungsfähigkeit erkennbar war. Schließlich trat der Student unter Voraussetzungen zu den Prüfungen an, die sein bisheriges Leben bestimmten. Auch wenn er die ADHS-Diagnose zu den Prüfungszeitpunkten noch nicht hatte und daher die ADHS nicht behandelt wurde, hätte ihm bewusst sein können und müssen, dass er Aufmerksamkeitsprobleme hat, zumindest aber, dass es ihm unter den gegebenen Voraussetzungen schwer fällt, den Prüfungsanforderungen gerecht zu werden. Er hätte also bereits im Vorfeld der Prüfungen erkennen müssen, dass er so, wie seine Leistungsfähigkeit zu den Prüfungszeitpunkten war, kaum in der Lage sein würde, die Prüfungen zu bestehen.
Schließlich würde auch niemand auf die Idee kommen, die Zeugnisse eines Schülers, der in der dritten Klasse eine Brille zur Behandlung seiner Kurzsichtigkeit erhält, für die vorangegangenen beiden Klassenstufen zu revidieren allein aufgrund der Annahme, dass er bereits damals bessere Leistungen gezeigt haben würde, hätte er schon eine Brille getragen.
Im Kern berührt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts daher die Frage, wie wir als ADHS-Betroffene die ADHS sehen. Betrachten wir sie als Ausdruck einer fundamentalen Neurodiversität, der wir per se keinen pathologischen Charakter zuschreiben, so müssen wir akzeptieren, dass aus einer ADHS-Diagnose kein Anspruch auf Therapie, Sonderbehandlung und Nachteilsausgleich resultiert. Sehen wir die ADHS jedoch als eine Normabweichung, indem 5% aller Menschen, warum auch immer, in ihrem Verhalten durch Besonderheiten des Hirnstoffwechsels disponiert sind, und qualifizieren wir diese Disposition wie andere neurologische Anlagen (beispielsweise Epilepsie) als Krankheit, resultiert daraus zumindest in unserer Gesellschaft ein Diagnose- und Therapieanspruch sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch das Recht auf Nachteilsausgleich.
Wir wollen im ADHS Deutschland e.V. in den nächsten Monaten die Diskussion der Frage, ob es sich bei der ADHS um eine Form der Neurodiversität, eine psychische Störung oder eine neurologische Erkrankung handelt, und was die Zuordnung zu einem dieser Begriffe sowohl für das Selbstbild der Betroffenen wie auch die gesellschaftliche Verortung der ADHS bedeutet, gezielt anregen. Wir freuen uns auf eure Beiträge!