- Offizieller Beitrag
„Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“
Anpassung der oben genannten Leitlinie für Patienten, Angehörige und Interessierte
Klaus-Peter Grosse, Klaus Skrodzki unter Berücksichtigung der Korrekturvorschläge von ADHS-Deutschland e.V.,
Sabina Millenet, Wolfgang Retz, Ulrich Kohns und Kirsten Stollhof
Vorbemerkungen:
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird in der angepassten Leitlinie für Patienten nur die männliche Form verwendet. Es sind stets Personen aller Geschlechter gleichermaßen gemeint.
Was ist eine Leitlinie für Patienten?
Mit einer Leitlinie für Patienten sollen Inhalte einer von Fachleuten erstellten Leitlinie in eine allgemeinverständliche Sprache übertragen werden. Die Empfehlungen der
Leitlinie für Patienten beruhen auf dem besten derzeit verfügbaren Wissen. Damit werden bei ihrer Erstellung die Qualitätsanforderungen an verlässliche Patienteninformationen berücksichtigt.
Was ist die Grundlage für diese Leitlinie für Patienten?
Grundlage dieser Leitlinie für Patienten ist die S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“. S3 bedeutet, dass die Leitlinie nach den höchsten Ansprüchen
erstellt wurde, die in Deutschland gelten. Neben allgemeinen Informationen über das Krankheitsbild ADHS enthält diese Leitlinie Handlungsempfehlungen für Ärzte, Psychotherapeuten und andere Berufsgruppen, die Patienten mit ADHS betreuen. Da sie für Fachleute geschrieben wurde, ist sie nicht für jeden verständlich. In der vorliegenden Leitlinie für Patienten übersetzen wir die Empfehlungen in eine allgemein verständliche Sprache. Dabei orientiert sich die Patientenleitlinie eng an der Leitlinie für Fachleute, gibt diese aber nicht in voller Ausführlichkeit und im Original-Wortlaut wieder.
Die S3-Leitlinie wurde federführend entwickelt von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ). An der Leitlinie zu ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter waren viele Fachleute beteiligt: Kinderund Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, Nervenärzte, Ergotherapeuten, Heilpädagogen, Motopäden sowie Patienten- und Angehörigenvertreter.
Die Handlungsempfehlungen stützen sich auf das beste derzeit verfügbare medizinische Wissen. Dennoch ist eine Leitlinie keine Zwangsvorgabe. Jeder Mensch hat seine eigene Krankengeschichte und eigene Wünsche. In begründeten Fällen muss der Behandelnde sogar von den Empfehlungen einer Leitlinie abweichen.
Die Leitlinie für Fachleute (Langfassung und Kurzfassung) ist im Internet frei zugänglich: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-045.html. Dort sind auch die Literaturstellen aufgelistet, auf denen Aussagen der dieser Leitlinie beruhen.
Wer sind die Zielgruppen dieser Leitlinie für Patienten, Angehörige und Interessierte?
• Von ADHS betroffene Menschen sowie deren Angehörige und andere Bezugspersonen;
• interessierte Personen, die sich eingehender informieren möchten;
• Selbsthilfeorganisationen;
• Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Patienteninformations- und Beratungsstellen;
• ärztliche Fachgruppen, Angehörige anderer Heil- und Gesundheitsberufe sowie Fachleute verschiedener Versorgungsstrukturen;
• die Öffentlichkeit.
Was sind die Ziele dieser Leitlinie für Patienten, Angehörige und Interessierte?
• Die Zielgruppen sollen über die in der von Fachleuten erstellten Leitlinie empfohlene Versorgung und diesen Empfehlungen zugrunde liegenden Erkenntnisse in allgemeinverständlicher Sprache informiert werden.
• Der Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung in der Betreuer-Patient-Beziehung soll gefördert werden.
• Die aktive Beteiligung der Betroffenen am Behandlungsprozess soll gefördert werden.
• Die Zusammenarbeit aller an der Behandlung beteiligten medizinischen Berufsgruppen soll dargestellt werden.
• Der Austausch mit anderen Betroffenen soll gefördert werden.
• Auf weitergehende Informationsmöglichkeiten soll hingewiesen werden.
Wie werden die Empfehlungen in der Leitlinie bewertet?
Die Empfehlungen einer Leitlinie beruhen soweit wie möglich auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Manche dieser Erkenntnisse sind eindeutig und durch aussagekräftige Studien abgesichert, haben damit eine „hohe Evidenzstärke“. Andere wurden in Studien beobachtet, von denen anzunehmen ist, dass sie zuverlässige Ergebnisse liefern. Sie haben damit eine „moderate Evidenzstärke“.
Manchmal gibt es in unterschiedlichen Studien auch widersprüchliche Ergebnisse, die haben dann eine „schwache / sehr schwache Evidenzstärke“.
Alle Daten werden einer kritischen Wertung durch eine Expertengruppe unterzogen. Berücksichtigt wird dabei auch, wie bedeutsam ein Ergebnis aus Sicht der Betroffenen ist. Das Resultat dieser gemeinsamen Abwägung spiegelt sich in den Empfehlungen der Leitlinie wider: Je nach Datenlage und Einschätzung der Leitliniengruppe gibt es unterschiedlich starke Empfehlungen. Das wird auch in der Sprache ausgedrückt:
• „soll“ (starke Empfehlung): Nutzen und/oder Risiko sind eindeutig belegt und sehr bedeutsam, die Ergebnisse stammen aus sehr gut durchgeführten Studien („Evidenzstärke hoch“);
• „sollte“ (Empfehlung): Nutzen und/oder Risiko sind belegt und bedeutsam, die Ergebnisse stammen aus gut durchgeführten Studien („Evidenzstärke moderat“);
• „kann“ (Empfehlung offen): Die Ergebnisse stammen entweder aus weniger hochwertigen Studien, oder die Ergebnisse aus zuverlässigen Studien sind nicht eindeutig („Evidenzstärke schwach / sehr schwach“), oder der
belegte Nutzen ist nicht sehr bedeutsam. Manche Fragen sind für die Versorgung wichtig, wurden aber nicht in Studien untersucht. In solchen Fällen kann die Expertengruppe aufgrund ihrer eigenen Erfahrung gemeinsam ein bestimmtes Vorgehen empfehlen, das sich in der Praxis als hilfreich erwiesen hat. Das nennt man einen „Expertenkonsens“.
In dieser Leitlinie wurde diese Benennung für den Empfehlungsgrad übernommen. Wenn dort steht, Ihr Arzt oder Ihr Psychotherapeut soll, sollte oder kann so oder so vorgehen, dann wird damit der Empfehlungsgrad der Leitlinie wiedergegeben. Wenn die Empfehlung nicht auf Studiendaten, sondern auf Expertenmeinung beruht, wird dies mit „Expertenkonsens“ beschrieben.
Allgemein zu ADHS
Was ist ADHS?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine in der Kindheit beginnende Entwicklungsstörung mit den Kernsymptomen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder motorische Unruhe. Diese Symptome müssen mindestens 6 Monate anhalten, in verschiedenen Lebensbereichen auftreten und mit einer zumindest mäßigen Beeinträchtigung im sozialen- und Leistungsbereich einhergehen. Die Symptome und die mit ihr verbundenen Funktionseinschränkungen bleiben in vielen Fällen bis ins Erwachsenenalter bestehen.
- Wie verändert sich die Ausprägung der Kernsymptome mit dem Alter?
- Die Kernsymptome der ADHS sind in den verschiedenen Altersstufen unterschiedlich ausgeprägt.
- Im Vorschulalter steht meist die starke Bewegungsunruhe
und Hyperaktivität im Vordergrund. Auch im Schulalter
wird ein Kind mit ADHS zu einem großen Teil in Situationen auffallen, in welchen von ihm erwartet wird, ruhig
sitzen zu bleiben. Ab dem Jugendalter zeigt sich die Hyperaktivität oftmals nicht mehr in gesteigerter körperlicher
Aktivität, sondern vielmehr in Form von innerer Unruhe
oder Fahrigkeit. Diese innere Form der Unruhe bleibt auch
im Erwachsenenalter noch bestehen.
Auch das Symptom der Unaufmerksamkeit verändert sich
im Lauf der Entwicklung. Die Störung der Aufmerksamkeit ist besonders im Schulalter offensichtlich, zumal die
kontinuierliche konzentrierte Mitarbeit eine wesentliche
Anforderung an Schulkinder darstellt und eine Störung der
Konzentration im Unterricht direkt beobachtbar und feststellbar ist. Mit zunehmendem Alter erhöht sich entwicklungsbedingt die Aufmerksamkeitsspanne, doch bleibt sie
im Vergleich mit Gleichaltrigen ohne ADHS häufig reduziert, was auch im Erwachsenenalter den Alltag Betroffener
noch erheblich einschränken kann.
Auch die Impulsivität geht üblicherweise mit zunehmendem Alter zurück, bringt aber auch längerfristig erhebliche
Funktionseinschränkungen im Alltag mit sich.
Angesichts der entwicklungsabhängigen Abnahme ADHStypischer Symptome nimmt die Häufigkeit von ADHS
vom Kindes- und Jugendalter bis ins Erwachsenenalter hin
ab. Etwa 50 bis 80% der im Kindesalter Betroffenen weisen
auch als Erwachsene noch ADHS-Symptome auf. Ein Drittel zeigt sogar noch das Vollbild der Störung.
Wie häufig ist ADHS?
Bei Kindern und Jugendlichen wurde ADHS in 5,3% bei
Untersuchungen an größeren Bevölkerungsgruppen gefunden, wobei international keine wesentlichen Unterschiede
bestehen. In Deutschland ist nach Elternberichten eine
Diagnosehäufigkeit von etwa 5% anzunehmen. Im Erwachsenenalter wurde eine Häufigkeit von 2,5% festgestellt.
Welche Risiken können mit ADHS einhergehen?
ADHS ist mit funktionellen Beeinträchtigungen verbunden, die häufig zu Problemen im Bereich von Schule, Ausbildung und Beruf und zu sozialen Schwierigkeiten in der
Familie, im Kontakt mit Gleichaltrigen und Beziehungspartnern führen.
Längsschnittstudien haben gezeigt, dass von ADHS betroffene Erwachsene einen niedrigeren Ausbildungsstand
erreichen, ein geringeres Einkommen und eine geringere
berufliche Stellung haben, ein erhöhtes Risikoverhalten
zeigen, häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt sind und
häufiger Gesetzesübertretungen begehen.
Welche Ursachen hat ADHS?
Die Ursachen von ADHS sind verschiedenartig und bisher
noch nicht vollständig geklärt.
Sicher ist, dass dabei viele sich gegenseitig beeinflussende
Faktoren beteiligt sind. Eine entscheidende Rolle spielen
dabei erbliche Veranlagungen und Umwelteinflüsse in der
Zeit vor, während und kurz nach der Geburt, die die Entwicklung von Aufbau und Funktion des Gehirns beeinflussen.
Was ist über die erbliche Veranlagung für ADHS bekannt?
ADHS tritt in Familien gehäuft auf. Bei Geschwistern oder
Eltern erkrankter Kinder liegt die Wahrscheinlichkeit zwischen 10 und 35%, ebenfalls an ADHS erkrankt zu sein.
Bei Personen, die von ADHS betroffen sind, kommen bestimmte Erbanlagen häufiger vor als in der sonstigen Bevölkerung. Jede einzelne dieser Erbanlagen erhöht das Krankheitsrisiko für ADHS allerdings nur in geringem Maß. Erst
in ihrer Kombination und in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren tragen sie zur Entstehung einer ADHS bei.
Was ist über die Bedeutung von Umwelteinflüssen bei
der Entstehung von ADHS bekannt?
Kinder von Raucherinnen haben ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko, eine ADHS zu entwickeln. Unklar ist allerdings, ob dabei das Nikotin in der Schwangerschaft oder
andere mit dem Rauchen verbundene Risikofaktoren wie
etwa eine ADHS bei der Mutter eine ursächliche Rolle gespielt hat. Bei weiteren Umweltgiften besteht der Verdacht,
an der Entstehung von ADHS beteiligt zu sein, so zum Beispiel für PCB (polychloriertes Biphenylen), wenn Mütter
in der Schwangerschaft einer erhöhten Belastung mit PCB
ausgesetzt waren, oder für Blei, für das erhöhte Werte im
Blut von Kindern mit ADHS gefunden wurden. Die ursächliche Bedeutung dieser Umweltgifte ist aber noch ungeklärt.
Auch Frühgeburtlichkeit wird als Risikofaktor diskutiert,
da ADHS bei Frühgeborenen häufiger ist als bei Reifgeborenen.
Ungünstige psychosoziale Bedingungen wie Armut, Vernachlässigung, psychische Erkrankungen der Eltern sind
bei Kindern mit ADHS häufiger.
Wie wirken Erbanlagen und Umwelteinflüsse zusammen?
Ob und wie sich bestimmte Umwelteinflüsse bei einer Person auswirken, kann davon beeinflusst werden, welche Erbanlagen diese Person hat.
Welche Besonderheiten des Gehirns gibt es bei ADHS?
Im Vergleich zu einer Gruppe von gesunden Kindern haben Kinder mit ADHS ein etwas kleineres Gehirn. Stärker ausgeprägt ist diese Volumenminderung in verschiedenen Bereichen des Stirnhirns, im Nucleus caudatus2
und im Kleinhirn. Sie ist umso stärker, je schwerer die
ADHS-Symptomatik ist.
Als funktionelle Besonderheiten zeigten Kinder mit ADHS
eine geringere Hirnaktivität in Stirnhirnbereichen und veränderte Aktivierungsmuster im vorderen Hirnwindungsgürtel, im Stirnhirn und weiteren damit in Verbindung
stehenden Hirn- und Kleinhirnstrukturen. Eine vermehrte
Aktivierung zeigten hingegen Bereiche, die mit dem Sehen,
2 Nucleus caudatus – Schweifkern, Teil der Basalganglien
der räumlichen Wahrnehmung und Verarbeitung motorischer Reize verbunden sind. Das lässt darauf schließen,
dass Kinder mit ADHS Reize anders verarbeiten als gesunde Kinder. Weitere Besonderheiten der Hirnströme konnten im Ruhe-EEG3
und auch bei durch Reize hervorgerufenen EEG-Veränderungen gefunden werden.
All diese Unterschiede ließen sich nur im Gruppenvergleich zwischen Kindern mit ADHS und gesunden Kindern zeigen. Sie sind nicht ausschließlich bei ADHS zu finden und nicht bei jedem Kind mit ADHS gleichermaßen.
Auch ist noch unklar, inwieweit diese Besonderheiten des
Gehirns Ursache oder Folge der Symptomatik sind.
Empfehlungen
DIAGNOSTIK
Welche Kriterien müssen für die Diagnose ADHS erfüllt sein?
Für die Diagnose ADHS müssen die Diagnosekriterien
nach DSM4
-5 oder ICD5
-10 (das sind internationale Klassifikationssysteme für Krankheiten) erfüllt sein. Dazu muss
unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne
deutliche Hyperaktivität ausgeprägt sein, nicht dem Alter
und Entwicklungsstand entsprechen und zu mindestens
mäßiger Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und
Beruf führen. Diese Auffälligkeiten müssen durchgehend
länger als 6 Monate bestehen und bereits im Kindesalter
vorhanden gewesen sein.
Die Symptome dürfen nicht besser durch andere körperliche oder psychische Störungen erklärt werden können
Was sind die Unterschiede zwischen den Diagnosekriterien der Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-10?
In der ICD-10 wird das Krankheitsbild als „Hyperkinetische Störung“ (HKS) bezeichnet. Dabei müssen alle drei
Kernsymptome: Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität vorhanden sein: „Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“. Wenn zusätzlich eine Störung des
Sozialverhaltens vorliegt, lautet die Diagnose „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“, Beginn vor dem Alter
von 7 Jahren.
Im DSM-5 wird das Krankheitsbild als „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ bezeichnet (ADHS).
3 EEG – Elektroenzephalogramm – Aufzeichnung der Hirnströme
4 DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
5 ICD – International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems
DSM-5 unterscheidet drei Erscheinungsbilder einer
ADHS: vorwiegend unaufmerksames, vorwiegend hyperaktiv-impulsives oder gemischtes Erscheinungsbild, je nachdem, welche der drei Kernsymptome besonders ausgeprägt
vorhanden sind, Beginn vor dem Alter von 12 Jahren.
Bei welchen Personen sollte eine ADHS-Diagnostik
durchgeführt werden?
Eine diagnostische Abklärung auf ADHS sollte veranlasst
werden bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die
folgende Auffälligkeiten aufweisen: Entwicklungsstörungen oder Lern- / Leistungsprobleme oder Verhaltensprobleme oder andere in Frage kommende psychische Störungen (siehe unten) und bei denen diese Probleme mit
Hinweisen auf Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit
und Konzentration oder auf erhöhte Unruhe oder Impulsivität kombiniert sind.
Wer sollte eine ADHS-Diagnostik durchführen?
Bei Kindern und Jugendlichen sollte dies durch einen
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder einen psychologischen Psychotherapeuten mit
Zusatzqualifikation für Kinder und Jugendliche oder einen
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Erfahrung
und Fachwissen in der Diagnostik von ADHS durchgeführt werden.
Bei Erwachsenen sollte die diagnostische Abklärung
durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
Facharzt für Neurologie, Facharzt für psychosomatische
Medizin oder durch ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten vorgenommen werden.
Wenn Hinweise auf zusätzliche psychische oder körperliche Störungen oder Erkrankungen bestehen oder andere
psychische oder körperliche Störungen oder Erkrankungen
als Ursache in Frage kommen, sollte dies abgeklärt werden.
Wenn in der diagnostizierenden Praxis die Möglichkeiten
zur Abklärung nicht ausreichen, sollte eine Überweisung
an einen Spezialisten aus dem entsprechenden Fachgebiet
veranlasst werden.
Wenn die Diagnose durch einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder durch einen psychologischen
Psychotherapeuten gestellt wird, sollte die immer erforderliche körperliche Untersuchung zusätzlich durch einen
Arzt erfolgen.
Welche diagnostischen Maßnahmen sollen routinemäßig eingesetzt werden?
Grundlage für die Diagnose ADHS sollen sein:
1. eine umfassende Befragung des Patienten und – v.a. bei
Kindern und Jugendlichen – seiner Bezugspersonen (vor
allem der Eltern, wenn möglich auch der Lehrer / Erzieher, einschließlich schriftlicher Berichte und Zeugnisse),
die inhaltlich gegliedert folgende Themen umfassen soll:
a) Wie ist die aktuelle ADHS-Symptomatik: Welche Symptome liegen vor? Wie häufig und wie stark ausgeprägt
sind sie in verschiedenen Lebensbereichen (Familie,
Schule, Freizeitbereich)? Welche Unterschiede in der
Ausprägung gibt es in diesen Lebensbereichen (z.B. bei
Hausaufgaben, bei Familienaktivitäten)?
b) Wie schränken die ADHS-Symptome die Funktionsfähigkeit ein (z.B. in den Beziehungen, der Leistungsfähigkeit, der Teilhabe)?
c) Welche psychischen Symptome oder Störungen oder
körperliche Erkrankungen bestehen außerdem noch?
d) Wie sind die aktuellen und wie waren die früheren Rahmenbedingungen? Welche Möglichkeiten zur Unterstützung und welche Belastungen gibt es in der Familie
und in Kindergarten / Schule oder am Arbeitsplatz?
Gibt es Probleme mit der psychischen und körperlichen
Gesundheit der Bezugspersonen?
e) Wie und wann haben sich erste Symptome der ADHS
gezeigt und wie hat sich die Symptomatik dann weiter
entwickelt? Welche Vorbehandlungen gab es im Zusammenhang damit?
f) Welche Möglichkeiten zur Unterstützung, welche Wünsche und Bedürfnisse hat der Patient und seine Bezugspersonen?
g) Welche Krankheiten sind in der Familie bekannt? Gibt
es insbesondere Anhaltspunkte dafür, ob bei engen Familienangehörigen Anzeichen für eine ADHS bestehen?
2. die Verhaltensbeobachtung des Patienten und – bei
Kindern und Jugendlichen – wie Patient und Eltern
in der Untersuchungssituation miteinander umgehen.
ADHS Symptome müssen dabei nicht notwendigerweise auftreten;
3. die körperliche Untersuchung und die Beurteilung des
Entwicklungsstandes.
Welche Bedeutung haben die Selbsteinschätzungen der
Patienten für die Diagnostik?
Der Bericht der Eltern und anderer Bezugspersonen ist im
Kindesalter von entscheidender Bedeutung. Daneben sollte bei Kindern und Jugendlichen zur Beurteilung der klinischen Bedeutsamkeit und der Beeinträchtigung aufgrund
der ADHS-Symptomatik das eigene Erleben berücksichtigt werden.
Bei Erwachsenen basiert die Beurteilung überwiegend auf
den eigenen Angaben, die mit denen enger Bezugspersonen – sofern verfügbar – abgeglichen werden sollten.
Welche Bedeutung haben Fragebogenverfahren und Verhaltensbeobachtungen bei der Diagnostik von ADHS?
Die Diagnose ADHS sollte nicht ausschließlich auf der
Grundlage von Fragebogenverfahren oder Verhaltensbeobachtungen gestellt werden. Fragebogenverfahren für Eltern,
Lehrer oder Patienten sind aber hilfreich und sollten auch
zur ergänzenden Erfassung der Symptomatik oder zusätzlich vorhandener Symptome eingesetzt werden.
Verhaltensbeobachtungen außerhalb der Untersuchungssituation (z.B. in der Schule) sollten vor allem dann zum
Einsatz kommen, wenn die Symptomatik nicht eindeutig
erfasst werden kann.
Welche Bedeutung haben testpsychologische Untersuchungen bei der Diagnostik von ADHS?
Die Diagnose ADHS soll nicht ausschließlich auf der
Grundlage von psychologischen Tests gestellt oder ausgeschlossen werden.
Allerdings können testpsychologische Untersuchungen
die Diagnostik ergänzen. Sie sind zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen notwendig (z.B. bei Verdacht auf
schulische Überforderung oder auf Intelligenzminderung,
Entwicklungsstörungen oder neuropsychologische Störungen).
Verhaltensbeobachtungen während testpsychologischer
Untersuchungen können ergänzende Hinweise auf das
Vorliegen einer ADHS-Symptomatik liefern. ADHS-Symptome müssen jedoch nicht notwendigerweise während
der Untersuchung auftreten.
Welche Bedeutung haben Labor- und apparative medizinische Untersuchungen für die Diagnostik von ADHS?
Eine routinemäßige Durchführung von Laboruntersuchungen oder apparativen medizinischen Untersuchungen
ist im Rahmen der ADHS-Diagnostik nicht erforderlich.
Sie sollen aber durchgeführt werden, wenn das für die Abklärung möglicher zugrundeliegender somatischer Erkrankungen oder für differenzialdiagnostische Abklärungen
von Bedeutung ist.
Gibt es altersspezifische Besonderheiten, die bei der
Diagnostik zu berücksichtigen sind?
Die Symptomatik der ADHS ist in unterschiedlichen Altersgruppen verschieden ausgeprägt. Folgende altersspezifische Besonderheiten sollten bei der Diagnostik berücksichtigt werden:
• Die Diagnose einer ADHS soll vor dem Alter von drei
Jahren nicht gestellt werden.
• Bei Kindern im Alter von drei bis vier Jahren kann die
Diagnose in der Regel nicht hinreichend sichergestellt
werden.
• Bei Kindern im Vorschulalter soll die Diagnose in der
Regel nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik
gestellt werden.
• Bei jüngeren Kindern können sehr stark ausgeprägte Unruhe, Impulsivität und Ablenkbarkeit sowie Störungen
der Regulation Risikofaktoren für die Entwicklung einer
ADHS sein.
• Je jünger die Kinder sind, umso schwieriger ist eine Abgrenzung zu Normvarianten.
• Im Jugend- und Erwachsenenalter muss die im Verlauf
der Pubertät oft einsetzende Verminderung der Hyperaktivität berücksichtigt werden.
Welche psychischen Störungen oder körperlichen Erkrankungen sind von ADHS abzugrenzen?
Merkmale von Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit können auch bei anderen psychischen Störungen auftreten. Diese zeigen jedoch zusätzliche Merkmale, welche üblicherweise nicht bei ADHS vorkommen.
In Betracht zu ziehen sind:
• Störungen des Sozialverhaltens, die mit Verweigerung
von Aufgaben einhergehen können, die Anstrengung
verlangen;
• Tic- und Tourette-Störungen, die durch plötzlich einschießende Bewegungen und Laute gekennzeichnet sein
können;
• umschriebene Entwicklungsstörungen und Lernstörungen, die mit Unaufmerksamkeit einhergehen können;
• Intelligenzminderung, bei der eine Überforderung Symptome einer ADHS auslösen kann;
• Autismus-Spektrum-Störungen, bei denen aufgrund der
autistischen Symptomatik Unaufmerksamkeit oder auch
Impulsivität ausgelöst werden kann;
• depressive Störungen, bei denen Konzentrationsprobleme auftreten können;
• Angststörungen, bei denen Unaufmerksamkeit und Unruhe in Zusammenhang mit Angst auftreten kann;
• bipolare Störungen, bei denen episodisch Überaktivität,
Impulsivität undKonzentrationsprobleme auftreten;
• Substanzkonsumstörungen, bei denen durch Substanzkonsum Symptome einer ADHS ausgelöst werden können;
• psychotische Störungen, in deren Verlauf auch
ADHS-Symptome auftreten können;
• medikamenteninduzierte Störungen;
• Schlafstörungen, einschließlich Schlafapnoe, die mit Müdigkeit und Unaufmerksamkeit einhergehen;
• Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), wobei das
Erregungsniveau erhöht ist.
Organische Erkrankungen können Verhaltensweisen auslösen, die fälschlicherweise als ADHS Symptome interpretiert werden:
• Seh- oder Hörstörungen, die als Unaufmerksamkeit fehlinterpretiert werden;
• Anfallsleiden, die als Unaufmerksamkeit oder motorische Unruhe fehlinterpretiert werden;
• Schilddrüsenfunktionsstörungen.
Bei weiteren organischen Erkrankungen wie z.B. bei der
Fetalen Alkohol Spektrum Störung (FASD) und anderen,
zumeist seltenen Erkrankungen, können Symptome von
ADHS zusätzlich vorhanden sein.
Störungen, die von ADHS abgegrenzt werden können,
können aber auch gemeinsam mit einer ADHS als zusätzliche Störung auftreten.
Welche zusätzlichen Störungen sind häufig gemeinsam
mit ADHS vorhanden und sollen beachtet werden?
Zusätzliche Störungen sind häufig. Sie können sich ungünstig auf die Prognose auswirken.
Bei Kindern kommen oppositionelles Trotzverhalten und
andere Störungen des Sozialverhaltens, Tic-Störungen,
umschriebene Entwicklungsstörungen (der Motorik, der
Sprache, der schulischen Fertigkeiten), Angststörungen,
depressive Störungen, Autismus-Spektrum-Störungen und
ab dem Jugendalter Substanzkonsumstörungen und Persönlichkeitsstörungen zusätzlich zur ADHS am häufigsten
vor.
Bei Hinweisen darauf soll eine Abklärung und nötigenfalls
eine Behandlung entsprechend den jeweiligen Leitlinien
erfolgen.
Vorgehensweise bei der Behandlung
Wie sollte ausgewählt werden, welche Behandlung für
einen bestimmten Patienten am besten geeignet ist?
Nachdem die Diagnose gestellt ist, sollte bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS abgeklärt werden, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. Diese sollten dem Patienten vorgestellt und erläutert werden, damit
er sich mit diesem Wissen dafür oder dagegen entscheiden
kann (informierte Entscheidung). Außerdem sollte vom
Behandler erfragt werden, welche dieser Behandlungsmöglichkeiten vom Patienten und seinen Bezugspersonen gewünscht und mit getragen werden (partizipative Entscheidungsfindung).
Bei der Auswahl der Therapie sollten persönliche Faktoren
(z.B. Leidensdruck), Umgebungsfaktoren, der Schweregrad der Störung sowie zusätzlich vorhandener Störungen
und die Teilhabe berücksichtigt werden
Wie soll die Behandlungsplanung erfolgen?
1. Die Behandlung der ADHS soll im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Gesamtkonzeptes erfolgen,
was bedeutet, dass verschiedene Behandlungsarten berücksichtigt werden. Es soll dazu ein Behandlungsplan
aufgestellt werden. Entsprechend der individuellen Symptomatik, dem Funktionsniveau, der Teilhabe sowie den
Wünschen des Patienten und seines Umfeldes können
dabei psychosoziale (was damit gemeint ist, wird weiter
unten erläutert) und medikamentöse sowie ergänzende
Interventionen kombiniert werden.
2. Grundsätzlich soll eine umfassende Psychoedukation angeboten werden, bei der der Patient und seine wichtigen
Bezugspersonen über ADHS aufgeklärt werden, ein individuelles Störungskonzept entwickelt wird und Behandlungsmöglichkeiten dargestellt werden mit dem Ziel, eine
partizipative Entscheidungsfindung zu ermöglich. Weitere Erläuterungen zu „Psychoedukation“ siehe unten.
3. Bei Kindern vor dem Alter von sechs Jahren soll primär
psychosozial (einschließlich psychotherapeutisch) (siehe
Erläuterungen) interveniert werden. Eine medikamentöse Behandlung der ADHS-Symptomatik soll nicht vor
dem Alter von drei Jahren angeboten werden.
4. Bei ADHS von einem leichten Schweregrad (weiter unten wird ausgeführt, wie ADHS nach Schweregraden
eingeteilt werden kann) soll primär psychosozial interveniert werden. In Einzelfällen kann bei behandlungsbedürftiger ADHS-Restsymptomatik ergänzend eine medikamentöse Behandlung angeboten werden.
5. Bei mittelgradiger ADHS soll in Abhängigkeit von den
Lebensumständen des Patienten, seines Umfeldes, den
Wünschen des Patienten und seiner wichtigen Bezugspersonen sowie den Behandlungsmöglichkeiten nach
einer umfassenden Psychoedukation entweder eine intensivierte psychosoziale (einschließlich intensivierte
psychotherapeutische) Intervention oder eine medikamentöse Behandlung oder eine Kombination angeboten
werden.
6. Bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer ADHS soll
primär eine medikamentöse Therapie nach einer intensiven Psychoedukation angeboten werden. In die medikamentöse Therapie kann eine parallele intensive psychosoziale Intervention integriert werden. In Abhängigkeit
von dem Verlauf der Pharmakotherapie sollen bei behandlungsbedürftiger ADHS-Restsymptomatik psychosoziale Interventionen angeboten werden.
7. Im Erwachsenenalter ist die medikamentöse Therapie
auch bei leichter und mittelgradiger Ausprägung und
Beeinträchtigung (neben der Psychoedukation) die Therapie der ersten Wahl (vorausgesetzt dies entspricht den
Wünschen des Patienten).
8. Zusätzlich bestehende Störungen sollen leitliniengerecht
behandelt werden. Bei der Entscheidung, welche Störung zuerst behandelt werden soll, soll u. a. der Schweregrad der Störungen berücksichtigt werden.
Erläuterung
Schweregradeinteilung der ADHS-Symptomatik:
Leichtgradig:
Die vorliegenden Symptome reichen aus, damit die Diagnose ADHS gestellt werden kann. Zusätzliche Symptome
bestehen nicht oder nur in geringem Ausmaß.
Die Symptome führen zu nur geringfügigen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
Mittelgradig:
Die Ausprägung der Symptomatik und der funktionalen Beeinträchtigung liegt zwischen „leichtgradig“ und
„schwergradig“. Es gibt dabei 2 Möglichkeiten:
1. Die Ausprägung der Symptomatik übersteigt deutlich
das zur Diagnosestellung erforderliche Ausmaß, aber es
bestehen nur geringfügige Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen,
oder
2. Die Ausprägung der Symptomatik ist gering, aber es besteht eine deutliche funktionelle Beeinträchtigung.
Schwergradig:
Die Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Diagnosestellung erforderliche Anzahl oder mehrere Symptome sind besonders stark ausgeprägt und die Symptome
beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche
Funktionsfähigkeit in erheblichem Ausmaß.
Erläuterung
Definition Psychosoziale Interventionen
Psychosoziale Interventionen umfassen die nach einer
Ausbildung erlernten, bewussten und geplanten psychologischen, psychotherapeutischen und sozialen Maßnahmen
zur Verminderung von ADHS oder zusätzlich vorhandenen psychischen Störungen.
Psychosoziale Interventionen können direkt an den Patienten oder seine Bezugspersonen (z.B. Eltern, Lehrer
Partner) gerichtet sein oder auch das nähere oder weitere
Umfeld des Patienten (Familie, Kindertagestätte, Schule,
Arbeitsplatz, Gemeinde) einbeziehen. Psychosoziale Interventionen können von verschiedenen Berufsgruppen
durchgeführt werden, wenn sie eine entsprechende Qualifikation besitzen, beispielsweise Psychologen und Psychotherapeuten, Ärzten, Pädagogen, Ergotherapeuten oder
Sozialarbeitern.
Definition Psychoedukation
Psychoedukation umfasst die Aufklärung und Beratung
des Patienten oder seiner Bezugspersonen zum Störungsbild und seinen Ursachen sowie zum Verlauf und zu den
möglichen Maßnahmen. Neben der Aufklärung über mögliche Beeinträchtigungen sollten dabei besonders auch die
individuellen Stärken und schützenden und fördernden
Möglichkeiten beachtet werden. Dies sind zum Beispiel
besondere sportliche Kompetenz, Spontanität, Kontaktfreudigkeit oder Kreativität, um diese für den Patienten
und seine psychosoziale Umgebung erfahrbar werden zu
lassen. Gemeinsam mit dem Patienten und seinen Bezugspersonen wird auf der Basis dieser Informationen ein
individuelles Störungskonzept zu den vermutlichen Ursachen und dem vermutlichen Verlauf der Symptomatik
im individuellen Fall erarbeitet und es werden konkrete
Strategien zur Bewältigung der Problematik oder ihrer
Folgen in den verschiedenen Lebensbereichen des Patienten entwickelt. Psychoedukation stellt die Grundlage aller
weiterführenden psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen) und medikamentösen Maßnahmen dar
und stellt den Betroffenen Informationen zur Verfügung,
die eine gemeinsame Entscheidungsfindung, „shared decision making“ (SDM) möglich machen. Bei intensiveren
psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen)
Maßnahmen werden Maßnahmen durchgeführt, welche
über die Beratung bei Psychoedukation hinausgehen und
beispielsweise eine konkrete und detaillierte Anleitung von
Eltern oder anderen Bezugspersonen zur Veränderung der
Wechselwirkung mit dem Patienten, sowie Maßnahmen zu
Veränderungen von Informationsverarbeitung (einschließlich Einstellungen), Emotionen und Handlungen der Bezugspersonen und des Patienten und auch konkrete Therapieaufgaben für Bezugspersonen und Patient umfassen.
Im Rahmen des multimodalen Behandlungsplans sollten
Zielen aus den Bereichen Aktivitäten und Teilhabe Vorrang eingeräumt werden. Die Zielformulierung sollte gemeinsam mit den Betroffenen und deren Angehörigen erfolgen.
Wie soll bei Nichtansprechen auf die therapeutischen
Maßnahmen vorgegangen werden?
Wenn die durchgeführten medikamentösen oder nichtmedikamentösen (z.B. Elterntraining, psychosoziale, einschließlich psychotherapeutische Intervention) therapeutischen Maßnahmen keine oder nur sehr geringe Wirkung
zeigen, soll vom Behandler erneut überprüft werden:
Generell:
• ob die Diagnosekriterien einer ADHS erfüllt sind;
• ob das schlechte therapeutische Ansprechen ggf. durch
vorhandene zusätzliche Störungen / Erkrankungen erklärt werden kann;
• wie Patienten und Sorgeberechtigte gegenüber den eingesetzten therapeutischen Interventionen eingestellt sind;
• inwieweit Sorgeberechtigte / sonstige Betreuungspersonen die Behandlung des Patienten unterstützen und der
Patient selbst zu einer Behandlung motiviert ist;
• ob die Befürchtung einer Bloßstellung die Akzeptanz gegenüber der Therapie beeinträchtigt.
Zusätzlich bei Pharmakotherapie:
• wie regelmäßig die Einnahme des Präparates erfolgt ist,
ob unerwünschte Wirkungen auftraten und wie in diesem
Zusammenhang die Einhaltung der Therapieziele einzuschätzen ist;
• ob das Präparat in ausreichender Dosierung und in angemessener Verteilung über den Tag verordnet und eingenommen wurde.
Wie soll mit fortbestehenden zusätzlich bestehenden
Störungen oder Problemen umgegangen werden?
Bei erfolgreicher medikamentöser oder nichtmedikamentöser Therapie der ADHS-Kernsymptomatik soll gemeinsam mit dem jeweiligen Patienten und seinen Bezugspersonen überprüft werden, ob zusätzlich bestehende Störungen
oder Probleme weiter bestehen (z. B. aggressives Verhalten,
Ängste oder Lernschwierigkeiten). Für diese begleitenden
Schwierigkeiten sollten jeweils ein individueller Behandlungsplan aufgestellt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.
Weitere Therapiemaßnahmen
Neurofeedback
Unter welchen Voraussetzungen kann ADHS mit Neurofeedback behandelt werden?
Neurofeedback kann im Rahmen eines Behandlungsplanes
der ADHS bei Kindern ab dem Alter von sechs Jahren und
Jugendlichen ergänzend eingesetzt werden, wenn es nach
einem standardisierten Verfahren (Näheres dazu siehe unten) durchgeführt wird und wenn dadurch eine andere wirkungsvollere Therapie nicht verzögert oder verhindert wird.
Wie soll Neurofeedback bei ADHS durchgeführt werden?
Wenn Neurofeedback eingesetzt wird, soll es:
• mittels gut untersuchter Verfahren trainiert werden. Sog.
„QEEG-basierte“ Verfahren mit z.T. anderen Frequenzbereichen und Platzierungen der Elektroden sollen nicht
verwendet werden;
• Grundsätze der Lerntheorie und Übungen zum Übertragen des Erlernten in den Alltag umfassen;
• ausreichend lange trainiert werden (mindestens 25 bis
30 Sitzungen), wobei regelmäßig mit dem Kind / Jugendlichen und Eltern gemeinsam überprüft werden soll,
ob die Fortsetzung der Behandlung durch Hinweise auf
eine beginnende Wirksamkeit gerechtfertigt ist
Kommentar zur Empfehlung:
Da es sich bei Neurofeedback um eine Maßnahme auf verhaltenstherapeutischer Basis handelt, sollten die durchführenden Therapeuten eine verhaltenstherapeutische
Qualifikation sowie eine fundierte Kenntnis der Standard-Neurofeedback-Trainingsverfahren haben. Darüber
hinaus wird – wie auch bei anderen Maßnahmen – Supervision als unerlässlich angesehen. Derzeit gibt es noch
keine formalisierte Ausbildung, die zur Durchführung von
Neurofeedback qualifiziert.
Diätetische Maßnahmen
Was sollte dem Patienten im Hinblick auf Ernährung
im Allgemeinen mitgeteilt werden?
Der Behandler sollte Patienten aller Altersgruppen und
ihre Angehörigen auf die Wichtigkeit und Bedeutung einer
ausgewogenen und vollwertigen Ernährung sowie regelmäßiger Bewegung bzw. sportlicher Betätigung hinweisen.
Was soll im Hinblick auf künstliche Farbstoffe beachtet
werden?
Der Versuch, im Rahmen der Ernährung auf künstliche
Farbstoffe oder auch andere Nahrungszusätze zu verzichten, kann sich für einzelne Patienten als hilfreich herausstellen. Dies soll jedoch nicht als generelle Maßnahme bei
Kindern- und Jugendlichen sowie bei Erwachsenen mit
ADHS durchgeführt werden.
Was sollte im Hinblick auf Eliminationsdiäten6 beachtet werden?
Die Anamneseerhebung sollte bei Kindern, Jugendlichen
mit ADHS auch die Fragestellung berücksichtigen, ob bestimmte Nahrungsmittel oder Getränke die Symptomatik
(v.a. die Hyperaktivität) beeinflussen. Ergeben sich dabei
Hinweise auf mögliche Zusammenhänge, sollten Eltern,
Betreuungspersonen oder die Betroffenen selbst angehalten werden, einige Tage Buch über aufgenommene Nahrung / Getränke und den Verlauf der ADHS Symptomatik
zu führen. Bestätigt sich hierdurch der Zusammenhang
zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und dem Verhalten, sollte an einen Ernährungsberater verwiesen werden.
Das weitere diesbezügliche Vorgehen (z.B. das Weglassen
bestimmter Nahrungsmittel) sollte im Verlauf in gemeinsamer Abstimmung zwischen Ernährungsberater und dem
Behandler, sowie den Eltern oder Betreuungspersonen erfolgen.
Die Eltern oder Bezugspersonen von Kindern oder Jugendlichen mit ADHS sollten in diesem Zusammenhang
darauf hingewiesen werden, dass nichts bekannt ist über
Langzeiteffekte, die durch das Weglassen bestimmter Nahrungsmittel entstehen können, und auch nur wenige Befunde zu den Kurzzeiteffekten solcher Diäten vorliegen,
und möglicherweise mit Mangelerscheinungen und Folgeschäden zu rechnen ist.
Können Omega 3- / Omega 6-Fettsäuren zur Behandlung der ADHS empfohlen werden?
Auch wenn es Befunde gab, die auf einen positiven, aber
quantitativ geringen Effekt einer Gabe von Omega 3- und
Omega 6-Fettsäuren zur Behandlung der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hindeuteten, kann
nach heutigem Stand der Erkenntnis (Nice 2016) keine
Empfehlung für eine Nahrungsergänzung mit diesen Substanzen abgegeben werden.
Medikamentöse Maßnahmen
Kommentar über die Rahmenbedingungen für die
Verordnung von Medikamenten bei ADHS (Stand
Ende 2017):
Für die medikamentöse Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS sind in Deutschland vier verschiedene Wirkstoffe in einer Vielzahl von Arzneimitteln zur
Einnahme zugelassen. Bei diesen Wirkstoffen können zwei
Gruppen unterschieden werden: einerseits die sogenannten Stimulanzien (Methylphenidat und Dexamfetamin),
andererseits die sogenannten Nicht-Stimulanzien (Atomoxetin und Guanfacin).
Die Stimulanzien sind den Betäubungsmitteln zugeordnet
6 Eliminationsdiät – Diät unter Auslassung bestimmter – sonst üblicher -
Nahrungsbestandteile
und ihre Verordnung erfolgt nach dem Betäubungsmittelgesetz. Die Verordnung muss durch einen Spezialisten für
Verhaltensstörungen bei Kindern durchgeführt werden.
Zuvor muss die Diagnose der ADHS anhand einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten und
gemäß aktuell gültiger Kriterien (DSM-V oder ICD-10)
gestellt worden sein. Die Diagnose darf sich nicht allein auf
das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen.
Bezüglich der Auswahl des geeigneten Präparats finden
sich darüber hinaus in den Fachinformationen relevante
Differenzierungen.
Die Fachinformationen zu den Medikamenten enthalten
darüber hinaus weitere Hinweise dazu, was bei der Verordnung bezüglich der Auswahl eines geeigneten Medikamentes zu beachten ist:
So sind die Wirkstoffe Methylphenidat und Atomoxetin
grundsätzlich zur Behandlung der ADHS zugelassen. Dagegen ist Dexamfetamin nur dann zugelassen, wenn zuvor
mit Methylphenidat behandelt wurde und diese Behandlung nicht ausreichend wirksam war. Guanfacin ist nur
dann zugelassen, wenn für diese Patienten eine Behandlung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt, unverträglich
ist oder sich als unwirksam erwiesen hat.
Für Methylphenidat liegen Darreichungsformen mit unmittelbarer (unretardierter) und verzögerter (retardierter)
Wirkstofffreisetzung vor. Es finden sich jeweils verschiedene Medikamente, welche alle den gleichen Wirkstoff beinhalten, sich jedoch teilweise hinsichtlich der Füll- und Zusatzstoffe unterscheiden. Insbesondere bei den retardierten
Darreichungsformen kommen hierdurch Unterschiede in
der zeitlichen Freisetzung des Wirkstoffs und der Wirkdauer zu Stande. Diese können in der Behandlung für die
Auswahl des Präparats bzw. eine Umstellung dessen von
Bedeutung sein und für den Patienten von Nutzen sein.
Aus der Wirkstoffgruppe der Amfetamine sind zwei Arzneimittel für die Behandlung der ADHS bei Kindern und
Jugendlichen ab sechs Jahren zugelassen, wenn das Ansprechen auf eine zuvor erhaltene Behandlung mit Methylphenidat als unzureichend angesehen wird. Dexamfetaminhemisulfat (Attentin®) und Lisdexamfetamindimesilat
(Elvanse®) stellen jeweils verschiedene Aufbereitungen des
Wirkstoffes Dexamfetamin dar.
Seit Januar 2016 ist in Deutschland zudem Guanfacin (Intuniv®) zugelassen. Für die zulassungsgemäße Verordnung
ist Voraussetzung, dass eine Behandlung mit Stimulanzien
nicht in Frage kommt, unverträglich ist oder sich als unwirksam erwiesen hat.
Die Behandlung von Erwachsenen ab dem 18. Lebensjahr
kann mit zwei Methylphenidat Präparaten mit verzögerter
Wirkungsfreisetzung begonnen werden (Medikinet adult®,
Ritalin adult®). Die Verschreibung ist bis ins höhere Lebensalter möglich. Bei älteren Personen – eine genaue Altersdefinition wird vom G-BA in den Fachinformationen
nicht angegeben – soll keine Verschreibung vorgenommen
werden.
Die Behandlung der ADHS kann im Erwachsenenalter
auch mit Atomoxetin begonnen werden. Hier findet sich in
der Fachinformation der Hinweis, dass ab dem 65. Lebensjahr keine Erfahrungswerte zu dieser Behandlung verfügbar sind. Dies ist ein Anhaltspunkt, dass die Behandlung
mit Atomoxetin in diesem Alter nur nach besonders kritischer Bewertung des Verordnungsanlasses vorgenommen
werden soll.
Wenn eine Behandlung während der Jugend mit
Oros-Methylphenidat oder entsprechenden Generika erfolgte, kann diese in das Erwachsenenalter fortgeschrieben
werden.
Weiterführende Informationen zu den einzelnen Medikamenten sollen den jeweiligen aktuellen Fachinformationen
entnommen werden.
Die Autoren dieser Leitlinie weisen ausdrücklich darauf
hin, dass alle Angaben ohne Gewähr sind und jegliche Haftung durch fehlerhafte, unvollständige oder veraltete Informationen ausgeschlossen wird.
Unter „Off-Label-Use“ wird der zulassungsüberschreitende
Einsatz eines Arzneimittels verstanden, insbesondere bei
der Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Definition
des G-BA). Um diese Medikamente als „Off-Label-Use“
einzusetzen, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
• Nachgewiesene Wirksamkeit,
• Günstiges Nutzen-Risikoprofil,
• Fehlende Alternativen,
• Heilversuch.
Weiterhin hat der behandelnde Arzt eine besondere Aufklärungspflicht über mögliche Konsequenzen (keine
Herstellerhaftung usw.) gegenüber dem Patienten. Eine
gemeinsame Entscheidungsfindung ist notwendig. Ein
„Off-Label-Use“ ist dementsprechend nur bei schwerwiegenden Erkrankungen zulässig, wenn es keine Behandlungsalternative gibt. Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse muss die begründete Aussicht bestehen,
dass die Behandlung zu einem Erfolg führt.
Bei welchen Patienten ist eine Behandlung mit Medikamenten angezeigt?
Bei der Entscheidung für eine Behandlung mit Medikamenten sollten unterschiedliche Gesichtspunkte beachtet
werden: unter anderem das Alter des Patienten, der Schweregrad der Symptomatik und die daraus folgende Schwere
der Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen,
die Wünsche der Familie und des Patienten sowie die
Wirksamkeit von im Vorfeld bereits eingeleiteten psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen) Maßnahmen.
Bei Patienten im Kleinkind- bzw. Vorschulalter ab drei
Jahren sollte eine Behandlung mit Medikamenten nur mit
besonderer Vorsicht erwogen werden, da hierzu nur unzureichende wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Zuvor
sollten nichtmedikamentöse Behandlungsmöglichkeiten
wie z.B. Elterntraining (s.u.) ausgeschöpft worden sein.
Im Schulalter ist die Empfehlung zur Behandlung mit
Medikamenten im Rahmen des Behandlungsplanes v.a.
vom Schweregrad der Symptomatik sowie den Wünschen
des jeweiligen Patienten und seiner Familie abhängig. Bei
schwerer Ausprägung der Symptomatik und deutlicher
Beeinträchtigung hierdurch sollte den Patienten und ihren Familien nach ausführlicher Psychoedukation als Erstes zur Behandlung mit Medikamenten geraten werden,
sofern Vorstellungen und Wünsche der Betroffenen nicht
dagegen sprechen. Auch bei moderater Ausprägung bzw.
Beeinträchtigung ist eine Behandlung mit Medikamenten
angezeigt, wenn der Patienten und seine Familie diese Behandlungsmöglichkeit bevorzugen, ebenso bei mangelnder
Wirksamkeit vorherig eingeleiteter nichtmedikamentöser
Behandlungen. Im Gegensatz dazu wird im Erwachsenenalter aufgrund der vorliegenden Evidenz eine Behandlung
mit Medikamenten (neben der Psychoedukation) als erste
Behandlungsmöglichkeit auch bei leichter und moderater
Ausprägung und Beeinträchtigung angesehen (vorausgesetzt dies entspricht dem Wunsch des Patienten).
Wer soll eine medikamentöse Behandlung durchführen?
• Eine medikamentöse Behandlung soll nur von einem
entsprechend befähigten Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, für Nervenheilkunde, für Neurologie und
/ oder Psychiatrie oder für Psychiatrie und Psychotherapie, oder ärztlichen Psychotherapeuten initiiert und unter dessen Aufsicht angewendet werden. Dieser soll über
Kenntnisse im Bereich ADHS und der Kontrolle einer
Behandlung mit Medikamenten verfügen.
• Bei drei- bis sechsjährigen Kindern soll die Verschreibung durch einen Arzt mit besonderen Kenntnissen zu
Verhaltensstörungen in dieser Altersgruppe erfolgen.
• Die Entscheidung für eine Behandlung mit Medikamenten soll nur nach gesicherter Diagnosestellung auf der
Basis einer sorgfältigen Anamnese und Untersuchung erfolgen.
• Nach erfolgreicher medikamentöser Einstellung durch
die jeweiligen Spezialisten können in Ausnahmefällen
auch Hausärzte Folgeverordnungen und die damit verbundenen Kontrolluntersuchungen vornehmen. Zur
Überprüfung der Wirksamkeit bzw. der weiteren Notwendigkeit der Behandlung bzw. zur bedarfsorientierten
Anpassung der Dosierung sollen jedoch in regelmäßigen
Abständen auch weiterhin Vorstellungen bei den Spezialisten erfolgen, denen die Aufsicht über die Behandlung
obliegt.
Kommentar zur Empfehlung:
Verschreibende Ärzte müssen die rechtlichen Vorschriften
und Regelungen kennen, die im Zusammenhang mit der
Verordnung von Stimulanzien, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, gelten (gesetzliche Vorgabe).
Eine medikamentöse Behandlung von Kindern und
Jugendlichen mit einer ADHS soll von Fachpersonal
(Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, sowie Ärztinnen und Ärzten
mit Fachkunde für Kinder- und Jugendpsychiatrie; entsprechend erfahrenen Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin) durchgeführt werden.
Bei Erwachsenen mit ADHS soll die medikamentöse Behandlung von Ärzten durchgeführt werden, die über umfassende Kenntnisse bezüglich ADHS sowie im Bereich
der medikamentösen Therapie bei psychiatrischen Störungen und die häufig im Erwachsenenalter zusammen mit
ADHS auftretenden Erkrankungen verfügen.
Welche Präparate sind zur Behandlung empfohlen?
Wenn eine medikamentöse Behandlung angezeigt ist, sollen Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin und
Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als Behandlungsmöglichkeiten der ADHS in Betracht gezogen
werden. Dabei sollte beachtet werden, was aktuell für die
Zulassung der entsprechenden Medikamente gilt.
Nach welchen Kriterien sollten die passenden Medikamente ausgewählt werden?
Bei einer Entscheidung für eine Behandlung mit Medikamenten sollten bei der Wahl des Wirkstoffes bzw. der Zubereitungsform folgende Aspekte berücksichtigt werden:
• die Zulassungsbedingungen;
• die erwünschte Wirkdauer und was die Medikamente
bewirken;
• die unterschiedliche Art und Weise der unerwünschten
Wirkungen der Medikamente;
• das Vorliegen bestimmter gleichzeitig bestehender Störungen/Erkrankungen (z.B. Tic-Störungen, epileptische Erkrankungen). Wie dies die Auswahl der Medikamente beeinflusst, wird weiter unten dargestellt.
• besondere Umstände, welche die Bereitschaft des Patienten beeinträchtigen könnten, die Empfehlungen zur
medikamentösen Behandlung einzuhalten; z. B. Furcht
eines Kindes oder Jugendlichen vor Ausgrenzung, wenn
ein kurz wirksames Präparat während der Schulzeit eingenommen werden muss;
• die Gefahr des Missbrauchs der Substanz durch den Patienten bzw. der Weitergabe der Medikamente an Dritte;
• die Wünsche des Patienten und ggf. seiner Sorgeberechtigten.
Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS,
bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine
Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und
Sucht erfolgen.
Welche Untersuchungen sollten vor Beginn einer Behandlung mit Medikamenten durchgeführt werden?
Vor dem Beginn einer Behandlung mit Medikamenten
sollte eine erneute körperliche und neurologische Untersuchung erwogen werden. Besonders erfragt werden sollen
Symptome, die auf eine Herz-Kreislauferkrankung hinweisen könnten (z. B. Kreislaufzusammenbruch oder eine
nicht erklärliche Atemnot) und eventuelle familiäre Vorbelastungen im Hinblick auf Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems.
Vor jeder Einstellung mit Medikamenten sollen zumindest
Puls und Blutdruck sowie das Körpergewicht und die Körpergröße bestimmt werden.
Die Durchführung eines EKGs sollte dann erfolgen, wenn
sich aus der Vorgeschichte oder bei einer körperlichen Untersuchung Hinweise auf eine Herz-Kreislauferkrankung
ergeben oder eine entsprechende familiäre Belastung vorliegt. Falls nötig sollte dann ein Kardiologe bzw. Kinderkardiologe zu Rate gezogen werden.
Kommentar zur Empfehlung:
Die Voruntersuchungen orientieren sich an häufig auftretenden und bedeutsamen unerwünschten Wirkungen
(welche unerwünschten Wirkungen es gibt, wird weiter
unten ausgeführt). Da Puls- und Blutdrucksteigerungen
sowie Appetitminderung und Auswirkungen auf das Längenwachstum zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen zählen, wird empfohlen standardmäßig Puls, Blutdruck, Körpergewicht und Körpergröße zu bestimmen.
Da andere unerwünschte Wirkungen seltener auftreten,
ist eine standardmäßige Untersuchung vor Beginn einer
medikamentösen Therapie nicht empfohlen und sollte im
Einzelfall dann durchgeführt werden, wenn sich aus der
eigenen Krankheitsvorgeschichte oder der Krankheitsvorgeschichte der Familie Hinweise auf das Vorliegen einer
Herz-Kreislauferkrankung ergeben.
Was soll beim einzelnen Patienten bei der Auswahl des
Medikamentes berücksichtigt werden?
• Wenn die Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung gefallen ist, soll der Behandler bei Patienten
mit ADHS ohne bedeutsame Komorbiditäten die Behandlung mit Stimulanzien beginnen, wenn bei diesem
Patienten sonst nichts dagegen spricht.
• Es ist nicht zugelassen, die Behandlung mit Amfetaminpräparaten (Attentin, Elvanse) zu beginnen, wenn nicht
zuvor ein Behandlungsversuch mit Methylphenidat erfolgt war.
• Die Behandlung mit Intuniv ist für Kinder und Jugendliche im Alter von 6-17 Jahren nur dann zugelassen, wenn
eine Behandlung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt
oder unverträglich ist oder sich als unwirksam erwiesen
hat.
• Bei Patienten mit ADHS und gleichzeitig vorhandener
Störung des Sozialverhaltens oder antisozialer Persönlichkeitsstörung soll auch die Behandlung mit Stimulanzien begonnen werden.
• Bei Patienten mit ADHS und koexistierenden Ticstörungen sollen Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder
Guanfacin gewählt werden.
• Bei Patienten mit ADHS und gleichzeitig vorhandenen
Angststörungen sollen Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin gewählt werden.
• Bei Patienten mit ADHS und Substanzkonsum mit erhöhtem Risiko für nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch der Medikamente sollen langwirksame Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder Guanfacin gewählt
werden.
• Bei Patienten, bei denen sich eine Behandlung mit Stimulanzien als ineffektiv erwiesen hat, obwohl die Dosis
bis zur maximal verträglichen Höhe gesteigert wurde,
soll ein anderes Stimulanz, Atomoxetin oder Guanfacin
gewählt werden.
Bei Patienten mit ADHS, deren Symptomatik weder auf
Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin) noch auf
Atomoxetin oder Guanfacin anspricht bzw. bei welchen
die genannten Medikamente zu nicht ertragbaren unerwünschten Wirkungen führen, kann eine Kombination
verschiedener Wirkstoffe erwogen werden, unter Beachtung der jeweiligen Fachinformation.
Wenn mehrere Medikamente zur Behandlung in Frage
kommen und als gleichwertig zu betrachten sind, sollte zunächst das kostengünstigere Präparat gewählt werden.
Antipsychotika sollen für die Behandlung einer ADHS
ohne assoziierte Störungen nicht eingesetzt werden.
Bei Patienten mit ADHS und stark ausgeprägter Impulskontrollstörung und aggressivem Verhalten kann die befristete zusätzliche Gabe von atypischen Neuroleptika in
Kombination mit psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen) Interventionen zur Verminderung dieser
Symptomatik erwogen werden.
Kommentar zur Empfehlung:
Die zusätzliche Gabe von atypischen Neuroleptika ist im
Regelfall eine Off-Label Verordnung. Ausnahme ist die Anwendung von Risperidon zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung (bis zu 6 Wochen) von anhaltender Aggression bei Verhaltensstörung bei Kindern ab dem Alter von
fünf Jahren und Jugendlichen mit unterdurchschnittlicher
geistiger Leistungsfähigkeit, die gemäß der DSM-V Kriterien diagnostiziert wurden, bei denen der Schweregrad der
aggressiven oder anderen störenden Verhaltensweisen eine
Behandlung mit Medikamenten erfordert.
Auf der Basis der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse ist eine Empfehlung für den Einsatz weiterer Medikamente mit anderen Wirkstoffen (z.B. SSRI, Modafinil,
Selegilin, Bupropion) für die Behandlung der ADHS derzeit nicht möglich.
Kommentar zur Empfehlung:
Die Medikamente SSRI, Modafinil, Selegilin und Bupropion sind zur Behandlung der ADHS nicht zugelassen (off
label).
Cannabis soll für die Behandlung der ADHS nicht eingesetzt werden.
Welche Gründe gibt es, bei der Verschreibung von Stimulanzien bei Patienten mit ADHS langwirksame Medikamente zu erwägen?
• Größere Benutzerfreundlichkeit, einschließlich vereinfachter Medikamenteneinnahme
• Verbesserte Adhärenz
• Vermeidung möglicher Bloßstellungung (z.B. durch
Wegfall einer Einnahme der Medikation in der Schule)
Abhängig von den Anforderungen im Tagesverlauf sollten
die unterschiedlichen pharmakokinetischen Profile der
langwirksamen Präparate berücksichtigt werden.
Welche Gründe gibt es, unretardierte Medikamente zu
erwägen?
• genauere Dosisanpassung bei der allmählich zu steigernden Dosis zu Beginn der Behandlung mit Medikamenten
• erforderliche höhere Flexibilität in den Dosierungsschemata
Kommentar zur Empfehlung:
Während der Eindosierungsphase sollte, unabhängig vom
jeweiligen Wirkstoff, darauf hingearbeitet werden, dass
Patient und Bezugspersonen sich streng an die Behandlungsempfehlungen halten, damit die Eigenverantwortung
für eine Veränderung und das Verständnis für das Medikament gestärkt werden. Ziel ist, eine möglichst niedrige
Dosierung zu erreichen. Dies wird auch das Problem der
unerwünschten Wirkungen (Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Affektleere, Traurigkeit) vermindern bzw. vermeiden. Unter diesen Bedingungen kann ausgehend von einer
niedrigen Einstiegsdosis die Dosis allmählich so lange erhöht werden, bis keine weitere bedeutsame Verbesserung
der Symptomatik (z.B. auf der Ebene der Kernsymptome,
aber auch im Sinne einer Änderung von Problemverhalten) zu erreichen ist und die unerwünschten Wirkungen in
einem erträglichen Rahmen bleiben. Die zugelassene Tageshöchstdosis der einzelnen Präparate sollte berücksichtigt und nur in begründeten Ausnahmefällen überschritten
werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich dann um eine
off-label Verordnung handelt.
Was ist im Verlauf einer medikamentösen Behandlung
zu beachten?
Zu Beginn einer medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien, Atomoxetin oder Guanfacin soll bei jeder Veränderung der Dosierung eine engmaschige (z. B. wöchentliche)
Überprüfung der Wirksamkeit auf die ADHS-Symptomatik und eine Überprüfung bezüglich des Auftretens unerwünschter Wirkungen erfolgen. Dies soll durch eine
Befragung des betroffenen Patienten und / oder einer Betreuungsperson geschehen und dokumentiert werden.
Auch im weiteren Verlauf sind regelmäßige Kontrollen der
Wirksamkeit und Erfassung unerwünschter Wirkungen der
Medikation notwendig. Mindestens alle sechs Monate soll
überprüft werden, ob eine weitere Verabreichung angezeigt
ist.
Kommentar zur Empfehlung:
Aus dieser Überprüfung, ob eine weitere Verabreichung
angezeigt ist, können sich folgende Möglichkeiten zu einer
Veränderung der medikamentösen Behandlung ergeben,
die dann im weiteren Behandlungsverlauf umgesetzt werden sollten:
• medikamentöse Behandlung weiter wie bisher
• bei der medikamentösen Behandlung die Dosis reduzieren/ erhöhen
• die medikamentöse Behandlung beenden
• die medikamentöse Behandlung mit dem derzeitigen
Medikament beenden und ein anderes Medikament
wählen oder
• das derzeitige Medikament mit einem anderem Medikament kombinieren
Einmal jährlich soll im Rahmen einer behandlungsfreien
Zeit überprüft werden, ob die Fortführung der medikamentösen Behandlung angezeigt ist.
Der Behandler sollte neben seiner aus Verlauf und Befunden gewonnenen Einschätzung standardisierte Instrumente (im Eigen- und Fremdurteil) wie z.B. Fragebögen zur
Erfassung der Symptomatik bzw. zur Beurteilung möglicher unerwünschter Wirkungen einer medikamentösen
Behandlung in seine Beurteilung mit einbeziehen.
Unabhängig von der Wahl des Präparates soll im Zuge einer medikamentösen Behandlung
• bei Kindern und Jugendlichen die Körpergröße etwa alle
sechs Monate überprüft und dokumentiert werden;
• bei Patienten aller Altersstufen das Körpergewicht zunächst nach ca. drei und sechs Monaten nach Beginn der
medikamentösen Therapie, im Anschluss ca. alle sechs
Monate gemessen und dokumentiert werden.
Bei Auftreten einer bedeutsamen Beeinträchtigung des
Längenwachstums im Zusammenhang mit einer medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien sollte eine Unterbrechung der Behandlung z.B. während der Schulferien erfolgen, um ein „Aufholen“ des Wachstums zu ermöglichen,
wenn keine wichtigeren Gesichtspunkte dagegen sprechen.
Bei Patienten aller Altersgruppen sollten Puls und Blutdruck bei jeder Anpassung der Dosierung bzw. im Rahmen
der Routineuntersuchungen etwa alle sechs Monate im
Hinblick auf altersentsprechende Normwerte überprüft
werden. Bei einer medikamentösen Behandlung mit Guanfacin sollen Puls und Blutdruck aufgrund möglicher Verlangsamung des Herzschlags und zu niedrigem Blutdruck
engmaschig kontrolliert werden. Zudem sollten die Patienten auf Anzeichen und Symptome von Schläfrigkeit untersucht werden. Das Absetzen von Guanfacin sollte ausschleichend erfolgen, um einen dadurch hervorgerufenen
Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg zu vermeiden.
Eine Schädigung der Leber stellt eine seltene unerwünschte Wirkung bei der Behandlung mit Atomoxetin dar. Auf
Lebererkrankungen bezogene Laboruntersuchungen sind
als Teil der Routineuntersuchungen nicht erforderlich.
Liegen Hinweise auf eine Leberschädigung vor, muss das
Medikament sofort abgesetzt und entsprechende Untersuchungen veranlasst werden.
Im Falle einer Behandlung mit Stimulanzien soll durch Behandler, Sorgeberechtigte und andere Betreuungspersonen
auf die Gefahr eines Missbrauchs der Präparate geachtet
werden.
Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die mit Atomoxetin
behandelt werden, sollten unerwünschte Wirkungen im
Sinne sexueller Funktionsstörungen (Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen) sowie Störungen des Menstruationszyklus regelmäßig erfragt werden.
Bei Patienten, bei denen im Rahmen der medikamentösen
Behandlung zu wiederholten Untersuchungszeitpunkten
eine zu schnelle Herztätigkeit im Ruhezustand, ein unregelmäßiger Herzschlag oder ein erhöhter systolischer
Blutdruck festgestellt wurde, sollte die Dosis des jeweiligen Präparates vermindert werden. Außerdem sollte eine
Überweisung an einen Kinderkardiologen oder Kardiologen erfolgen.
Bei Auftreten psychotischer Symptome (z.B. Wahn / Halluzinationen) bei Patienten aller Altersstufen während
einer Behandlung mit Stimulanzien sollte das jeweilige
Präparat abgesetzt und der Patient erneut ausführlich psychiatrisch untersucht werden.
Wenn Krampfanfälle bei Patienten während der Behandlung mit Stimulanzien oder Atomoxetin neu auftreten oder
ein bekanntes Krampfleiden sich verschlimmert, soll das
eingesetzte Medikament sofort abgesetzt und das weitere
Vorgehen mit einem Neuropädiater /Neurologen besprochen werden.
Kommentar zur Empfehlung:
Epilepsie stellt grundsätzlich kein Hindernis für eine Behandlung mit Stimulanzien oder Atomoxetin dar, da es
keine Hinweise darauf gibt, dass diese die Krampfschwelle
herabsetzen.
Treten unter einer Behandlung mit Stimulanzien Tics auf,
sollten die Behandler abwägen,
• ob die Tics im Zusammenhang mit der medikamentösen
Behandlung stehen oder die Symptomatik im Rahmen
des natürlichen Verlaufs einer vorhandenen Ticstörung
zunimmt bzw. abklingt;
• ob die Beeinträchtigung durch die Tics gegenüber dem
positiven Effekt der medikamentösen Behandlung der
ADHS überwiegt. In einem solchen Fall soll, wenn die
Tics im Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung stehen, eine Verminderung der Dosis bzw. ein
Absetzen des Medikaments vorgenommen und ggfs. eine
Behandlung mit Guanfacin oder Atomoxetin erfolgen.
Bei Patienten mit bekannter Angstsymptomatik kann eine
medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien zu einer
Verstärkung der Ängste beitragen. Sollte dies der Fall sein,
kann eine Verminderung der Dosis des Medikamentes,
oder die Umstellung auf Atomoxetin oder Guanfacin erwogen werden. Die zusätzliche Angstsymptomatik soll leitliniengerecht behandelt werden.
Was ist im Hinblick auf Medikamenten-Adhärenz7 zu
beachten?
Mangelnde Adhärenz bei der Behandlung von ADHS sowohl im Kindes- und Jugend- als auch im Erwachsenenalter ist ein häufiges Phänomen. Nicht-Adhärenz kann mit
einem Fortbestehen der ADHS-Symptomatik und daraus
entstehenden Beeinträchtigungen einhergehen.
Die Medikamenten-Adhärenz sollte regelmäßig überprüft
werden.
Dabei sollte im Auge behalten werden, dass die Nicht-Adhärenz ein Hinweis auf eine Ablehnung dieser Therapieform darstellen kann.
Kommentar zur Empfehlung:
Zur Überprüfung der Adhärenz sollte eine kritische Evaluierung der Motivation der Patienten zählen.
Bei älteren Kindern und vor allem bei Jugendlichen ist zu
bedenken, dass sie das Medikament wünschen können,
um sich bestimmten psychischen Belastungen, die häufig
mit hohen schulischen Anforderungen Hand in Hand gehen, zu entziehen. Hier besteht die Gefahr, dass bestimmte
Entwicklungsschritte in der Erfahrung von Selbstwirksamkeit, der Entwicklung von Frustrationstoleranz und in der
Überwindung von Schwierigkeiten, den Kindern und Jugendlichen erschwert werden.
Im gemeinsamen Gespräch und anhand der Regelmäßigkeit, in der Verordnungen nachgefragt werden, sollte die
Medikamenten-Adhärenz im Verlauf der Behandlung beurteilt werden.
Wenn sich Hinweise für mangelnde Medikamenten-Adhärenz ergeben, sollten die Ursachen individuell herausgefunden und abgebaut werden. Im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung sollten mögliche Lösungen
entwickelt werden.
Kommentar zur Empfehlung:
Die in der Empfehlung angesprochene mangelnde Medikamenten-Adhärenz kann auch Ausdruck des Widerstands
des Patienten gegen die medikamentöse Behandlung sein.
Da es sich bei den Stimulanzien um hocheffektive Medikamente handelt, die in den Neurotransmitterstoffwechsel des Gehirns eingreifen und darüber das Selbsterleben
verändern, ist einem möglichen Protest / Vorbehalt oder
gar einer Ablehnung der Medikation mit Respekt vor dem
Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu begegnen. Besonders bei Kindern ist hier eine sorgfältige psychologische Evaluierung erforderlich, denn Kinder können sich
aufgrund ihrer kognitiven8 und emotionalen Entwicklung
hier nur schwer Gehör verschaffen.
7 Adhärenz bedeutet, dass das Verhalten einer Person mit den mit dem
Behandler vereinbarten Empfehlungen übereinstimmt, wie zum Beispiel
bei der Medikamenten-Einnahme.
Stationäre und teilstationäre Behandlung, Maßnahmen der Jugendhilfe und Reha
Unter welchen Bedingungen sind stationäre und teilstationäre Behandlungen und Maßnahmen der Jugendhilfe und Reha bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden angezeigt?
Die Diagnostik und Behandlung der ADHS im Kindesund Jugendalter sollte in der Regel ambulant durchgeführt
werden. Eine stationäre oder teilstationäre Behandlung (in
Kliniken, Jugendhilfeeinrichtungen oder in Rehabilitationseinrichtungen), wenn nötig mit Mitaufnahme / ggfs.
Behandlung der Eltern, oder eine Behandlung im natürlichen Umfeld (home-treatment) kann nach nicht erfolgreicher ambulanter Therapie erwogen werden oder wenn eine
erfolgreiche ambulante Therapie unwahrscheinlich ist.
Letzteres kann beispielsweise der Fall sein
• bei besonders schwer ausgeprägter ADHS-Symptomatik,
• bei besonders schwer ausgeprägten zusätzlich bestehenden Störungen (einschließlich akuter Eigen- oder Fremdgefährdung),
• bei sehr geringer Unterstützung in der Familie oder im
Kindergarten bzw. in der Schule
oder
• bei besonders ungünstigen psychosozialen Bedingungen.
Bei dauerhaft unzureichender Unterstützung in der Familie oder extrem ausgeprägter Symptomatik (einschließlich zusätzlich vorhandener Symptome), die sich durch
ambulante bzw. kurzzeitige stationäre Behandlung nicht
hinreichend vermindern lässt, können auch längerfristige
ambulante, stationäre oder teilstationäre Maßnahmen der
Jugendhilfe erwogen werden.
Transition9
Bei welchen Patienten und durch wen soll eine Transition
zur Weiterbehandlung im Erwachsenenalter erfolgen?
Patienten mit ADHS in der Transitionsphase soll eine Überweisung an qualifizierte weiterbehandelnde Ärzte / Psychotherapeuten angeboten werden, wenn weiterhin eine
beeinträchtigende ADHS-Symptomatik und / oder andere
zusätzliche behandlungsbedürftige Störungen bestehen.
Kommentar zur Empfehlung:
Zum Thema Transition gibt es ein gemeinsames Eckpunktepapier der Fachgesellschaften DGKJP und DGPPN. In
8 Kognitiv - geistig
9 Überleitung des jugendlichen Patienten in die Erwachsenenmedizin
Anlehnung an die internationale Definition von Transition
im Gesundheitsbereich verstehen beide Fachgesellschaften
unter Transition „die gezielte Begleitung des Transitionsprozesses im Sinne einer Koordination der Anbieter und
Sicherung der Versorgungskontinuität auf dem Weg von der
jugendlichenzentrierten hin zur erwachsenenorientierten
Versorgung“ (Eckpunktepapier einsehbar unter: http://
http://www.dgkjp.de/stellungnahmenpositionspapiere/stellung
nahmen-2016/396-uebergang-zwischen-jugend-und-er
wachsenenalterherausforderungen-fuer-die-transitionspsy
chiatrie).
Wie sollte die Transition erfolgen?
Wenn eine Fortführung der Behandlung notwendig ist,
sollten ADHS-Patienten in der Transitionsphase erneut
untersucht werden, um einen gleitenden Übergang zu ermöglichen und die weiterbehandelnden Ärzte / Psychotherapeuten umfassend über Vorgeschichte, Behandlungsverlauf und derzeitiges Krankheitsbild zu informieren.
Während der Transition sollte eine Absprache der vor- und
der weiterbehandelnden Ärzte/Psychotherapeuten ermöglicht werden. Der ADHS-Patient sollte in der Transitionsphase über die Versorgung im Erwachsenenbereich umfassend informiert werden.
Welche Maßnahmen sollten bei den weiterbehandelnden Ärzten/Psychotherapeuten am Behandlungsbeginn erfolgen?
Bei den weiterbehandelnden Ärzten/Psychotherapeuten
sollte zunächst eine umfassende Untersuchung des Patienten mit ADHS erfolgen, die die Erfassung des ausbildungsbezogenen, beruflichen und sozialen Funktionsniveaus
einschließt. Zusätzlich sollten gleichzeitig vorhandene Störungen abgeklärt werden, vor allem Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch und Störungen der Emotionsregulation.
Selbsthilfe
Wie kann die Selbsthilfe in die Behandlung einbezogen
werden?
Fachleute, die Patienten mit ADHS betreuen, sollten die
regionalen und überregionalen Selbsthilfegruppen zu
ADHS kennen und Patienten und Angehörige über deren
Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten informieren.
Für Betroffene kann der Besuch einer Selbsthilfegruppe
bzw. einer Angehörigengruppe zusätzlich hilfreich sein.
Anhang
Adressen:
ADHS-Deutschland e.V. : https://www.adhs-deutschland.de/
Bundesgeschäftsstelle: Rapsstr. 61, 13629 Berlin
Arbeitsgemeinschaft ADHS e.V.: https://www.ag-adhs.de/
Postfach 500128; 22701 Hamburg
info@ag-adhs.de
Sekretariat: Frau Pirko Brüggmann
Juvemus e.V. : http://www.juvemus.de
Brückenstraße 25, 56220 Urmitz,
info@juvemus.de
Zentrales ADHS-Netz: https://www.zentrales-adhs-netz.de/
Universitätsklinikum Köln, Pohligstr. 9; 50969 Köln
zentrales-adhs-netz@uk-koeln.de
Mögliche Änderungen bei Medikamenten
(Zulassung, Substanzen) seit Drucklegung (Herbst 2017) der
Leitlinie ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter
Siehe S. 69
Diese Aussagen stimmen überwiegend ebenfalls für Generika (*Methylphenidat), die Zulassung muss jedoch im Einzelfall überprüft werden.
Unretardiert: Methylpheni TAD, Methylphenidat AL, Methylphenidat
Hexal, Methylphenidat Ratio, Methylphenidat 1A Pharma, u.a.
Retardiert: Methylphenidat HCL, Methylphenidat HCL HX (enthält
Lactose, Weiterbehandlung bei Erwachsenen nicht erwähnt), Methylphenidat HCL NX (Weiterbehandlung bei Erwachsenen nicht erwähnt),
Methylphenidat HCL 1A, Methylphenidat HCL ratio, u.a.
Nicht-Stimulanzien (*Atomoxetin): Atomoxetin neuraxpharm, Atomoxetin AL, Atomoxetin ratio, Atomoxetin Heumann, u.a.
Ergänzung zur Einnahme von Medikamenten (laut Fachinformationen)
Guanfacin darf nicht zusammen mit Grapefruitsaft eingenommen
werden.
Ob die gleichzeitige Einnahme mit Valproat sinnvoll und sicher ist, sollte
vorher mit dem Arzt abgesprochen werden.
Einnahme während der Schwangerschaft:
Methylphenidat, Atomoxetin, Guanfacin: nur wenn der mögliche
Nutzen das mögliche Risiko für den Feten rechtfertigt, d.h. wenn eine
Verschiebung oder Beendigung der Behandlung ein größeres Risiko für
die Schwangerschaft bedeutet.
Dexamfetamin: Während der Schwangerschaft, insbesondere während des ersten Trimesters ist Dexamfetamin kontraindiziert. Frauen
im gebärfähigen Alter müssen wirksame kontrazeptive Maßnahmen
anwenden.
Einnahme während des Stillens:
Methylphenidat, Atomoxetin, Guanfacin: Ein Risiko für das gestillte
Kind kann nicht ausgeschlossen werden. Nur wenn der mögliche Nutzen
das mögliche Risiko für den Säugling rechtfertigt. Dabei ist sowohl der
Nutzen des Stillens für das Kind als auch der Nutzen der Therapie für die
Mutter zu berücksichtigen.
Dexamfetamin: Dexamfetamin tritt in die Muttermilch über. Ein Risiko
für den Säugling kann nicht ausgeschlossen werden. Falls die Fortführung der Therapie aus medizinischer Sicht erforderlich ist, muss
abgestillt werden.
Elvanse: darf während der Stillzeit nicht angewendet werden.
Ältere Patienten (der Begriff „ältere Menschen“ ist nicht eindeutig
definiert)
Methylphenidat: darf nicht bei älteren Patienten angewendet werden.
Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Methylphenidat in dieser
Altersgruppe wurden nicht nachgewiesen.
Atomoxetin: wurde bei Patienten über 65 Jahren nicht systematisch
untersucht. Guanfacin, Dexamfetamin: Die Sicherheit und Wirksamkeit
ist bei Erwachsenen und älteren Personen mit ADHS ist nicht erwiesen.
Daher sollte Guanfacin und Dexamfetamin bei dieser Patientengruppe
nicht angewendet werden.
Anwendung während einer Operation mit halogenierten Narkotika:
Methylphenidat, Dexamfetamin: es besteht das Risiko einer plötzlichen Erhöhung des Blutdrucks. Wenn eine Operation geplant ist, sollte
Methylphenidat/Dexamfetamin nicht am Tag der Operation angewendet werden (laut Fachinformation).
Allerdings kann nach Absprache mit dem Anästhesisten (eventuell andere Narkoseform) die Einnahme von [definition='1','0']MPH[/definition]">[definition='1','0']MPH[/definition] am Operationstag von Vorteil
sein für den postoperativen Verlauf.
Drogenscreening
Alle methylphenidathaltigen Arzneimittel können zu einem positiven
Laborwert (z.B. Drogenscreening, Dopingkontrolle) für Amphetamine
führen, insbesondere bei Verwendung von Immunoassay-Methoden.
Zulassungsstatus von Arzneimitteln in der
Behandlung der ADHS bei Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen (Stand Januar 2020)
Psychostimulanz: Methylphenidat - nicht retardiertes [definition='1','0']MPH[/definition]">[definition='1','0']MPH[/definition]
Equasym® 10 mg, Medikinet® 5-10-20 mg,
*MPH-…® 10 mg, Ritalin® 10 mg Tbl.
im Alter 6 - 17 Jahre
Psychostimulanz: Methylphenidat - retardiertes [definition='1','0']MPH[/definition]">[definition='1','0']MPH[/definition]
Concerta® 18, 27, 36, 54 mg Kps. ab Alter 6 Jahre
Equasym® ret. 10-20-30 mg Kps. im Alter 6 - 17 Jahre
Kinecteen® 18, 27, 36, 54 mg Tbl. ab Alter 6 Jahre
ab Alter 18 Jahre, nur wenn
erfolgreich vorbehandelt
Medikinet® ret. 5-10-20-30-40-50-60 mg Kps. im Alter 6 - 17 Jahre
Medikinet® adult 5-10-20-30-40-50-60 mg Kps. ab Alter 18 Jahre
*Methylphenidat …® Ret., 18, 27, 36, 54 mg Kps. ab Alter 6 Jahre
ab Alter 18 Jahre, nur
wenn erfolgreich
vorbehandelt
Ritalin® LA 10-20-30-40-60 mg Kps. im Alter 6 - 17 Jahre
Ritalin adult® 10-20-30-40-60 mg Kps. ab Alter 18 Jahre
Psychostimulanz: D-Amfetaminhemisulfat
Attentin® 5-10-20 mg Tbl. im Alter 6 - 17 Jahre,
„second line“ Mittel
Amfetaminhemisulfat-Saft 0,2% (m/V) (NRF 22.4.)
1 ml = 2 mg DL-Amfetaminsulfat
ab dem Alter von
3 Jahren bis 17 Jahre
Psychostimulanz: Lisdexamfetamin
Elvanse® 20-30-40-50-60-70 mg Kps. im Alter 6 - 17 Jahre
„second line“ Mittel
Elvanse® Adult 30-50-70 mg Kps. ab Alter von 18 Jahre
Nicht-Stimulanz: Atomoxetin
Strattera® , Agakalin®, * Atomoxetin …®
10-18-25-40-60-80-100 mg Kps./Filmtbl.
ab Alter von 6 Jahren
und Erwachsene
Nicht-Stimulanz: Guanfacin
Intuniv® 1-2-3-4 mg
Ret.Tbl.
im Alter 6 - 17 Jahre
„second line“ Mittel