Anleitung zur Diagnostik und erste Therapieschritte - ADHS im Erwachsenenalter | 1

Liebe Community, wir arbeiten gerade an einer neuen ADHS & Autismus - Adressverzeichnis, welche ihr bereits ausführlich Testen könnt, es gibt viele neue Funktionen wie z.b. Bewertungen, Umkreissuche, nach Eigenschaften Filtern, Google Maps u.v.m.. Die ALTE ADRESSLISTE (Archive) wird nicht mehr gepflegt, auch können dort keine neuen Adressen eingetragen werden. Die Daten aus der alten Adressliste werde Schrittweise in die neue Adresseliste eingepfegt, dies ist sehr Zeitaufwändig.
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1. Einleitung: Lernen Sie, ADHS zu diagnostizieren – es lohnt sich!

Ziel dieses Textes ist es, Psychotherapeuten und Ärzten zu helfen, sich der ADHS-Diagnostik gegenüber zu öffnen, um diese in ihrer Praxis durchführen zu können. Deshalb liegt mein Augenmerk auf einer verständlichen und alltagsrelevanten Darstellung.


Mein persönlicher Hintergrund, der auch mein Engagement erklärt, ist folgender: Ich habe ADHS in der eignen Familie erfahren und bin selbst betroffen. Was uns geholfen hat, würde ich gern weitergeben. Meine langjährige „familiäre Fortbildung“ mündete 2007 in den beruflichen Schwerpunkt „ADHS im Erwachsenenalter“ in meiner psychotherapeutischen Kassenpraxis (VT).


Unter meiner Klientel sind immer häufiger die Transitionspatienten, die schon als Kind eine Diagnose und Medikation hatten – sie sind zu 70 % männlich, häufig zwischen 18 und 25 Jahren alt, meistens in einer Krise mit der Ausbildung oder dem Studium und werden teilweise auch von Eltern „geschickt“.


Erfreulicherweise sind viele der psychiatrischen Erkrankungen, die ADHS-Patienten häufig zusätzlich haben,<br>therapeutisch viel besser in den Griff zu bekommen, wenn eine ADHS-Behandlung durchgeführt wird. Falls der Patient bisher keine ADHS-Diagnose hatte, muss er ausführlich über ADHS aufgeklärt werden und ihm sollte Zeit gelassen werden, damit er dieses Störungsbild bei sich akzeptieren und verstehen lernen kann.

Sachgerecht durchgeführt ist die Effektivität einer ADHS-Behandlung oftmals überraschend hoch, darum gratuliere ich auch ADHS-Betroffenen, wenn ich ihnen ADHS diagnostizieren kann.1


Einer neuen Studie in Deutschland zufolge haben viele Psychiatriepatienten zusätzlich auch ADHS, diese neue Studie kommt auf eine Komorbidität von 59 %2. Dieses neurobiologisch „andere Gehirn“ der ADHSler erzeugt im Laufe des Lebens, insbesondere in unserer Leistungsgesellschaft und unserem Wertesystem, vielfältige psychische Auffälligkeiten und psychiatrische Störungen.


Gleichzeitig treten bei günstigen familiären und schulischen Rahmenbedingen auch weniger Folgekrankheiten und Bildungsprobleme auf. Leicht betroffene Erwachsene weisen zum Teil gute Kompensationsstrategien (wie Sport, Einsatz von Intelligenz, aber auch „Zwanghaftigkeit“) vor, die die Symptomatik und die Beeinträchtigungen im Leben weniger deutlich oder kaum hervortreten lassen. ADHS ist eine dimensionale Störung – das heißt, es handelt sich nicht um ein „Entweder-Oder“, sondern um ein „Mehr-oder-Weniger“. Doch bei unseren schwerer betroffenen Patienten ist es häufig leider so: Je länger ADHS unerkannt und unbehandelt bleibt, desto kränker werden die betroffenen Menschen, desto mehr Beeinträchtigungen erfahren sie in unserer Gesellschaft. Unerkanntes ADHS führt häufig langfristig zu Scheiternserfahrungen in vielen Lebensbereichen und Krankheit. Überbordende Versagensängste, ein Sich-Schämen wegen Unzulänglichkeiten und ein Verstecken der Schwierigkeiten vor anderen können zu psychischem Dauerstress führen.


Auch die Gesellschaft lässt sich ADHS nicht gefallen: „The society strikes back“ (Russel Barkley). ADHS-Betroffenen werden „früh die Flügel gebrochen“. Unbehandelt passen ADHSler häufig nicht in unsere Lebens- und Arbeitsformen, außer sie finden ihre Nische und wählen nur Lebens- und Arbeitsformen, die ihnen angemessen sind und sie begeistern. Sie finden zum Einstieg in die Thematik einen schönen Vortrag zu ADHS im Erwachsenenalter3, bzw. ein englisch- und ein deutschsprachiges Video zum neuesten Forschungsstand4. Sehr zu empfehlen ist die Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“5. Meine Schätzung ist, dass mindestens 35 % der Patienten, die tagtäglich vor Ihnen sitzen, auch ADHS haben, wie in meiner Praxis! Fangen Sie an, diese identifizieren, dazu dient dieser Text!


Die Therapie kann zu sehr guten Ergebnissen führen. Selbst komorbide Störungen wie z.B. Essstörungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Störungen, PTBS, Depressionen und Suchtprobleme können auf einmal therapierbarer werden oder verschwinden (ab und zu) auch ganz durch die Behandlung des ADHS. Schon von der ersten Therapiestunde an sollte der Prozess der Aufklärung über ADHS beginnen, damit der oft schwierige und länger andauernde Weg zur Akzeptanz des Störungsbildes gelingt. Viele Patienten sind sehr erleichtert und erfahren sofort eine Steigerung ihres Selbstwertgefühls, wenn sie diese Diagnose bekommen und sich dadurch ihr Leben zum ersten Mal selbst erklären und die Frage beantworten können, warum ihnen trotz andauernder Anstrengungen so vieles im Leben nicht gelungen ist


Vergessen Sie nie, dass vor ihnen ein Mensch sitzt, der etwas Unmögliches probiert hat, der eine ganze Kindheit und Jugend lang versucht hat, eine unlösbare Aufgabe zu stemmen. Er hat versucht, in Familie und Schule die Erwartungen in ihn zu erfüllen, aber sein Gehirn ist um Jahre reifungsverzögert gewesen und biologisch unfähig, eine funktionierende Selbstorganisation und Emotionssteuerung hinzubekommen. Scheitern und andere enttäuschen gehört früh zu seinem Leben. Andere, „neurotypische“ Geschwister und Mitschüler, sind an ihm vorbeigezogen; er ist deshalb nicht selten verachtet, gemobbt und herabgewürdigt worden, bis er angefangen hat, sich selbst zu verachten. Häufig wählen ADHSler in ihrer Jugend dann den Weg einer (unbemerkten) stillen Überanpassung oder der trotzigen Opposition und Rebellion.


Das angegriffene Selbstwertgefühl6,die erfahrenen großen und kleinen Traumen nimmt er durch das gesamte Leben hindurch mit. Die Folgeerkrankungen und schlechten Kompensationsstrategien führen nicht selten zu einer miserablen und ständig gefährdeten Lebensbilanz. Das ganze Leben will er nichts andres als normal und neurotypisch sein.


Niemand hat ihm bisher gesagt, dass er sich von der Mehrheitsgesellschaft (95%) unterscheidet, dass er „anders“ (Alien) ist. Darum ist diese Mitteilung, dass er eine biologische Besonderheit hat, die vieles erklärt, so wichtig: Er ist nicht schuldig! Er ist okay!


Ziel der gesamten Behandlung ist es auch, ein „funktionierendes Selbstbild“ beim Patienten entstehen zu lassen, damit er ein stimmiges Stärken-Schwächen-Profil bekommt, sich selbst versteht und annehmen kann. Er muss lernen, seine vielfältigen Schwächen und Handicaps wahrzunehmen und zu akzeptieren und sich deswegen nicht mehr „unwürdig“ zu fühlen oder sich anzuklagen: „Warum bin ich denn nur so?“ Da alles in der ADHS-Konstitution begründet und dementsprechend Biologie ist, hilft diese Erkenntnis, die Selbstachtung wieder zurückzugewinnen.


Gleichzeitig gilt auch, dass ADHS nur eine Erklärung ist, aber nicht (ständig) als Entschuldigung herhalten sollte. Die Verantwortung für sein Verhalten bleibt beim Patienten selbst. Dieses andere „funktionierende“ Selbstbild bleibt auch noch, wenn der Patient die Medikation schon wieder abgesetzt hat. Er hat in den vielfältigen Auseinandersetzungen mit ADHS gelernt, dass er nur „anders“, aber „durchaus okay“ ist. Zur Stärkung des Selbstwerts dient insbesondere, dem durch seinen bisherigen Lebenslauf verunsicherten und gekränkten Patienten durch Aufklärung und Psychoedukation7 im Therapieverlauf seine Ressourcen aufzuzeigen, die häufig reichlich vorhanden sind.8 Eine Irritierbarkeit und Volatilität der Selbstachtung und Selbstsicherheit wird häufig auch nach einer Therapie weiter bestehen, auch wenn man bereits Erfolge im Leben erzielt hat und niemand mehr Selbstzweifel vermutet.



Anleitung zur Diagnostik und erste Therapieschritte - ADHS im Erwachsenenalter

Dipl.-Psych. Jörg Dreher, jdreher57

Psychotherapeut mit Schwerpunkt ADHS im Erwachsenenalter / Transitionspraxis

Schon gewusst…?

Die Abkürzung MPH steht beim ADHS für Methylphenidat. Besser bekannt unter den Handelsnamen "Ritalin" und "Medikinet".