Gründe für die Behandlung der ADHS mit Arzneimitteln
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6. August 2024 um 23:21 -
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Die Arzneimitteltherapie der ADHS begann 1937 mit Amphetaminen und 1954 mit Methylphenidat ([definition='1','0']MPH[/definition]).
Sie verbessert in der Regel die Aufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität und Emotionsregulation bei leicht ablenkbaren, meist hyperaktiven und oft verhaltensauffälligen Kindern. Dies ist durch jahrzehntelange Praxiserfahrungen und in kontrollierten, reproduzierbaren, weltweiten, wissenschaftlichen Studien nachgewiesen.
Die Arzneimitteltherapie der hyperkinetischen Störung (HKS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit [definition='1','0']MPH[/definition] oder Amphetaminen ist in Fachleitlinien weltweit empfohlen. Dennoch wird weiter eine oft unwissenschaftliche und vorurteilsbeladene Diskussion über die Berechtigung der Arzneimitteltherapie geführt. Die Ablehnung orientiert sich selten am wichtigsten Therapieziel, nämlich die Lebensqualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu verbessern – Leidensdruck zu vermindern oder zu beenden.
Ich möchte Ihnen nach jahrzehntelanger Praxiserfahrung meine Gründe für die wissenschaftlich geprüfte Arzneimitteltherapie der ADHS erklären. Ob dies zur Versachlichung der Diskussion beiträgt, in der nicht selten
von Befürwortern und Gegnern mit Anders-Denkenden wenig wertschätzend umgegangen wird, möge der Leser beurteilen.
Jede Behandlungsmethode muss das Ziel haben, einen Leidensdruck zu beenden oder zumindest zu lindern. Die damit verbundene Normalisierung oder Verminderung der Beeinträchtigungen macht es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS möglich, ihre vorhandenen Fähigkeiten zu nutzen und Alltagsanforderungen altersentsprechend zu erfüllen. Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörungen können zu wesentlichen Beeinträchtigungen und Leidensdruck führen. Betroffen sind
- die Lern- und Leistungsentwicklung unabhängig von Begabung und sozialer Förderung
- die emotionale Entwicklung und ihre Regulationsfähigkeit,
- die psychosoziale Entwicklung mit der Teilhabe am familiären Leben und außerfamiliären Umfeld.
Alle Probleme und Störungen der ADHS sind mit Stress verbunden. Sie führen zu unterschiedlichen Beeinträchtigungen und zum Leidensdruck mit sich selbst und/oder mit dem privaten/schulischen/beruflichen Umfeld. Die ADHS hat systemische Auswirkungen für die Familie mit Eltern, Geschwistern, für spätere Lebenspartner und Personen im privaten und beruflichen Alltag. Bei fehlender oder unzureichender Behandlung der ADHS könne
im Verlauf weitere Störungen zu zusätzlichen Beeinträchtigungen und Leidensdruck führen.
Die Frage ist nicht, ob eine ADHS mit Beeinträchtigung und Leidensdruck behandelt werden muss, sondern welche Behandlungsmethode im Einzelfall die mögliche, notwendige und beste ist.
Für alle Behandlungsmethoden, auch die der ADHS, müssen wichtige Kriterien erfüllt sein:
- die Symptome müssen zu Beeinträchtigung oder Leidensdruck führen,
- eine nach Leitlinien weitgehend gesicherte Diagnose muss vorliegen,
- die Behandlungsmethode muss in wissenschaftlichen Studien ihren Nutzen bewiesen haben,
- die Behandlung muss sich an wissenschaftlichen Leitlinien orientieren,
- das Verständnis der Diagnose und die Mitsprache des Patienten, bei Kindern der Eltern, entscheiden bei der Wahl einer Behandlungsmethode mit,
- die Behandlungsmethode muss möglichst gut verträglich sein,
- akute oder spätere unerwünschte Behandlungsfolgen müssen fehlen oder zumindest tolerierbar sein.
Grundsätze in der Behandlung nach Leitlinienempfehlung zur ADHS
„Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS, die die Diagnosekriterien erfüllen, sollte abgeklärt werden, welche Behandlungsoptionen möglich sind … und auch, welche von dem Patienten und seinen Bezugspersonen gewünscht und mit getragen werden … Bei der Auswahl der Therapie sollten persönliche Faktoren (z. B. Leidensdruck), Umgebungsfaktoren, der Schweregrad der Störung sowie der koexistierenden Störung sowie die Teilhabe berücksichtigt werden.“
Gründe für eine Arzneimitteltherapie der ADHS
Orientiert an der Leitlinie ADHS und begründet durch eigene Erfahrungen empfehle ich die Arzneimitteltherapie der ADHS unter Beachtung folgender Voraussetzungen:
1. Vorliegen einer an Leitlinien orientierten Diagnose
ADHS. Die Arzneimitteltherapie ist weltweit als Therapie der
Wahl einer ADHS anerkannt. Bei Unsicherheit der Diagnose wie durch nicht gänzlich erfüllter Diagnosekriterien und gleichzeitig bestehendem Leidensdruck, Erfolglosigkeit oder Nicht-Zugänglichkeit einer anderen Interventionsform kann im Einzelfall eine probatorische – den Nutzen „prüfende“ (lateinisch probare: prüfen) – Behandlung mit [definition='1','0']MPH[/definition] die Sicherheit der Diagnose ADHS erhöhen und sich als erfolgreich erweisen.
2. Bei Erfolglosigkeit anderer, nicht medikamentöser Therapien und weiterer ungünstiger Entwicklung muss auch bei leichtgradiger ADHS eine Arzneimitteltherapie unter Berücksichtigung des Alters und
der Zulassungskriterien des gewählten Arzneimittels erfolgen. Aktuelle, englischsprachige Leitlinien empfehlen die Arzneimitteltherapie der ADHS unabhängig vom Schweregrad.
3. Eine Arzneimitteltherapie unmittelbar nach Diagnosestellung ist dann dringlich und berechtigt, wenn ohne sofortige Behandlung akute und/oder sich verschlimmernde Beeinträchtigungen (Leidensdruck), mangelnde Lebensqualität oder fehlende Teilhabe am sozialen Leben nicht weiter zumutbar sind oder die Familie am Rande ihrer Belastbarkeit steht. In den Fachinformationen der Arzneimittel zur Behandlung der ADHS wird ihr Einsatz erst empfohlen, „wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben“. Arzneimittel wie Amphetamine und Guanfacin dürfen sogar erst gegeben werden, wenn andere Behandlungsmethoden und der Einsatz von [definition='1','0']MPH[/definition] als nicht angebracht, nicht gewünscht, unzureichend oder erfolglos beurteilt werden. Einen Patienten mit wesentlichen Beeinträchtigungen (Leidensdruck) erst nach einer anderen, weniger sicher erfolgreichen Behandlungsmethode zu behandeln, verlängert seinen Leidensdruck und
gefährdet ihn.
4. Die Arzneimitteltherapie kann im Einzelfall vorhandene, sich verschlimmernde Begleitstörungen verhindern und später auftretenden psychiatrischen Störungen vorbeugen. Mit der Dauer einer beeinträchtigenden, unbehandelten ADHS nimmt die Zahl und das Ausmaß von Begleitstörungen, komorbide Erkrankungen genannt, zu:
Sozialverhaltensstörungen mit Aggression, Emotionsstörungen mit Ängsten, Depression und Substanzmissbrauch. Weitere psychiatrische Störungen und Persönlichkeitsstörungen können zu lebenslangen Begleitern
werden.
5. Meine Erfahrungen mit der Arzneimitteltherapie, z. B. mit Amphetamin als Saft, in ausgesuchten Fällen ab 3 Jahren im Kleinkind- und Vorschulalter stimmen mit der Anmerkung in der Leitlinie ADHS überein: „Die Auswirkungen einer Arzneimitteltherapie im Vorschulalter sind aufgrund der aktuellen Studienlage für die Hirnentwicklung eher günstig zu beurteilen.“
Kinder in diesem Alter sind daher nicht grundsätzlich von einer Arzneimitteltherapie ausgeschlossen. Ihr Einsatz ist ab 3 Jahren im Kleinkind- und Vorschulalter „nur mit besonderer Vorsicht und nach Ausschöpfung nicht-medikamentöser Therapieoptionen, wie z. B. Elterntraining“, zu erwägen. Da dies zwar leitlinienkonform, aber abweichend vom Zulassungsstatus, z. B. des [definition='1','0']MPH[/definition] ist, müssen Ärzte „die rechtlichen Vorschriften und Regelungen kennen, die im Zusammenhang mit der Verordnung von Stimulanzien, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, gelten (gesetzliche Vorgabe)“. Zusätzlich sind vertragsärztliche Regelungen bei der Verordnung zu berücksichtigen.
6. ADHS hat über den Patienten hinaus Auswirkungen auf seine Familie und sein Sozialumfeld. Eine Arzneimitteltherapie kann die ADHS-typischen Kernsymptome wie auch die daraus resultierenden
Funktionsbeeinträchtigungen der Beziehungen, sozialen Teilhabe und Lebensqualität verbessern oder verhindern. Die günstigen Auswirkungen einer Arzneimitteltherapie auf das familiäre und außerfamiliäre Zusammenleben sind genauso bedeutend wie die Verbesserung der Kernsymptome. Eine familiensystemisch orientierte Behandlung schließt eine Arzneimitteltherapie nicht aus.
7. Die Arzneimitteltherapie trägt auch dazu bei, dass Therapien, die über lange Zeit wenig oder nicht erfolgreich waren, schließlich zu Fortschritten und Erfolgen beitragen können. Die durch die Arzneimitteltherapie veränderten, bislang defizitären Hirnfunktionen normalisieren oder verbessern die beeinträchtigte Informationsaufnahme, -verarbeitung und -beantwortung. Andere Behandlungsmethoden können parallel zu ihr unterstützend wirken.
8. Das Angebot einer Arzneimitteltherapie muss umfassend und transparent erklärt, verständlich und überzeugend formuliert werden. So werden Ängste und Vorurteile gegen die Arzneimitteltherapie abgebaut. Eltern und Erwachsene müssen ausreichende Zeit haben, ihre emotionale und gedankliche Zerrissenheit über eine Arzneimitteltherapie zu vermindern. Das Abwägen der sich oft widersprechenden eigenen Gefühle
und der Informationen oder Empfehlungen anderer braucht Zeit. Notwendig ist dabei eine wertschätzende Hilfe zur Entscheidung durch den Arzt. Die Verminderung oder Beendigung der Beeinträchtigungen ist als
Behandlungsziel in den Mittelpunkt aller Abwägungen zu stellen.
9. Die Dauer der Arzneimitteltherapie muss als nicht sicher vorhersagbar und individuell sehr unterschiedlich besprochen werden. Eine über einige Jahre notwendige Arzneimitteltherapie kann dann erwartet werden, wenn die natürliche Nachreifung beeinträchtigter Hirnregionen zu einer Normalisierung der gestörten Funktionen führt. In Studien wie in eigenen Verlaufsbeobachtungen zeigte sich ein zusätzlich günstiger Effekt auf den Verlauf unter der MPH-Behandlung. Eine Langzeitbehandlung (situationsabhängig oder dauerhaft) ist dann zu erwarten, wenn die Funktionsstörungen nicht mehr in der Reifungsverzögerung des Gehirns, sondern in dauerhaften,
hirnstrukturellen Abweichungen ihre Ursache haben ähnlich wie bei anderen chronischen Erkrankungen.
Den Widerstand gegen eine Arzneimitteltherapie der ADHS musste ich immer wieder erleben. Diffuse Ängste, unüberwindbar scheinende Vorurteile und erschreckend manipulierte Fehlinformationen machten es Eltern oder
Betroffenen schwer, sich für eine Arzneimitteltherapie zu entscheiden. Es war schmerzlich, wenn Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen trotz leidvoller Beeinträchtigungen durch die ADHS eine Arzneimitteltherapie vorenthalten wurde.
Dazu trugen nicht selten Ärzte, Therapeuten, Lehrer, Erzieher und den Eltern nahestehende Berater bei. Die Befindlichkeit der Eltern, Betroffenen oder Berater in Hinblick auf eine Arzneimitteltherapie darf nicht wichtiger sein als die Verminderung oder Beendigung des Leidensdrucks und der fortschreitenden Beeinträchtigungen bei einer nicht durchgeführten Arzneimitteltherapie. Im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung über eine Arzneimitteltherapie müssen folgende Behandlungsziele stehen:
- Verständnis der Eltern und Pädagogen für die Symptomatik und Behandlungsmethoden der ADHS zu erreichen,
- das Erziehungsverhalten von Eltern, Lehrern und Erziehern zu optimieren,
- beim Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen über Symptomverbesserung oder -beendigung den schwer erträglichen Leidensdruck zu mildern oder zu beenden,
- eine Verbesserung der Lebensqualität des Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen in verschiedenen Funktionsbereichen zu erreichen.
Auf der Grundlage vieler beim Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen mit ADHS vorhandenen und beeinträchtigenden Fähigkeiten ermöglicht eine Arzneimitteltherapie ein gelingendes Leben durch Wegfall oder Verminderung
der Beeinträchtigungen (Leidensdruck) oder zumindest besseren Umgang mit ihnen.
AUTOR | Dr. Ulrich Kohns
Kinder- und Jugendarzt, Psychotherapeut
Über den Autor
Automatisierte Themen im Bereich ADHS & Autismus